Ist der Begriff ‚Muttersprache‘ noch zeitgemäß?

Jedes Jahr am 21. Februar feiern wir den UNESCO-Tag der Muttersprache. Aber was genau bedeutet der Begriff ‚Muttersprache‘ eigentlich und warum wird er in der Sprachwissenschaft so kritisch gesehen?

Den Ursprung des Wortes kann man heute nicht mehr klar nachweisen, eine Lehnübersetzung vom lateinischen ‚lingua materna‘ wäre eine Möglichkeit. Aber das Wort ‚Muttersprache‘ lässt sich nicht in alle Sprachen übersetzen. Einige Sprachen nutzen den Begriff ‚Vatersprache‘ wie z.B. das Polnische (język ojczysty) oder zwei Varianten wie z.B. Latein (sermo patrius oder lingua matera).

Das Konzept scheint also etwas mit den nächsten Verwandten, meist die Eltern, zu tun zu haben. Dabei ist in vielen Kulturen die Mutter, zumindest in den ersten Jahren, die engste Bezugsperson eines Kindes. Doch auch andere Personen wie die Tanten, Großeltern usw. umsorgen in vielen Kulturen ein Kind und sorgen für sprachlichen Input, der nicht immer einsprachig ist. Außerdem gibt es weltweit viele Familienkonzepte, die den Begriff ‚Muttersprache‘ nicht rechtfertigen.

In der Wissenschaft hat sich mittlerweile der neutrale Begriff ‚Erstsprache‘ oder ‚L1-Sprache‘ durchgesetzt, der keine direkte Zuordnung zur Mutter aufweist, sondern die zuerst erlernte Sprache beschreibt. Es ist natürlich möglich, dass ein Kind mehrere Erstsprachen erwirbt z.B. in einer bilingualen Familie und beide Sprachen gleichberechtigt gesprochen und verstanden werden. Studien zeigen, dass monolingual aufwachsende Kinder weltweit eher die Ausnahmen sind.

Umgangssprachlich ist Mutter- oder Vatersprache weit verbreitet und wird im allgemeinen Kontext mit der Bedeutung ‚Erstsprache‘ genutzt. Auch in anderen Konstruktionen wie ‚eine Sprache auf muttersprachlichem Niveau beherrschen‘ finden wir diesen Begriff im Alltag.

Nun kann man sich fragen, wer sich an der Bezeichnung ‚Muttersprache‘ wirklich stört. Im Alltag wahrscheinlich die wenigsten. Aber in der Sprachwissenschaft, besonders der Spracherwerbsforschung ist man übereingekommen die Sprachen nach dem Prinzip Erstsprache-Zweitsprache-Fremdsprache zu klassifizieren, um ein neutrales Konzept zu schaffen.

Viele sehen in dem Begriff ‚Muttersprache‘ eine veraltete Zuordnung klassischer Rollenbilder: Die Mutter kümmert sich um das Kind und das Kind erwirbt dann die Sprache der Mutter. Auch wenn uns diese Zuordnung natürlich erscheint und in vielen Fällen auch stimmt, beschreibt es nicht die weltweite Norm.

Außerdem überwiegt oft noch die Auffassung, Kinder sollten erstmal eine Sprache richtig lernen, um dann weitere Sprachen zu erwerben. Dass aber Kinder so flexibel sind und schon als Babys verschiedene Sprachen unterscheiden und den Bezugspersonen zuordnen können, z.B. anhand der Sprachmelodie oder bestimmten Lautfolgen, zeigt ihre kognitive Fähigkeit sich nicht nur auf die Sprache der Mutter oder einer anderen Person zu beschränken. In diesen Fällen ist die Muttersprache vielleicht gar nicht die Erstsprache, sondern eine der anderen Familiensprachen. Hier greift die Bezeichnung Erstsprache also viel besser, denn sie beschreibt neutraler in welcher Sprache sich ein Kind bewegt.

Ein anderer Punkt, der oft im politischen Kontext eine Rolle spielt, ist die Zuordnung durch Sprache. Spricht ein Mensch zwei Erstsprachen und wird nach seiner Muttersprache gefragt, was wird er wohl antworten? Gibt er die Sprache seiner Mutter an, wenn er überhaupt spricht? Oder ist es dann die Sprache, von der er glaubt, sie an besten zu beherrschen. Historisch war es oft vorteilhaft, die Mehrheitssprache als ‚Muttersprache‘ anzugeben, auch wenn es nicht die wirkliche Erstsprache war. Zumal meist nur eine Antwort zugelassen war und alle anderen Sprachen einer Person nicht erfasst wurden. Das erschuf eine statistische Einsprachigkeit der Menschen, die nicht die Realität abbildete.  

Welchen Begriff man heute verwenden möchte, steht natürlich jedem frei und in der Umgangssprache ist Mutter- oder Vatersprache an weitesten verbreitet. Doch wenn der Begriff z.B. auf ein spezifisches Familienmodell nicht passt, sollten auch andere Begriffe wie Familiensprache, Erstsprache oder Herkunftssprache verwendet werden können, die die Situation vielleicht besser beschreiben.

Quellen

Jung, Britta & Günther, Herbert. Erstsprache, Zweitsprache, Fremdsprache: Eine Einführung. Beltz, Weinheim/ Basel 2004

Kauschke, Christina. Kindlicher Spracherwerb im Deutschen: Verläufe, Forschungsmethoden, Erklärungsansätze. Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2012

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