Masurisch

Die Frage ob Masurisch (polnisch gwara mazurska , masurisch mazurská gádka/mazurská gádkia) als Dialekt oder eigenständige Sprache angesehen werden soll, spaltet die Forschung. Für beide Standpunkte lassen sich Argumente finden, aber die Mehrheit ist für Dialekt.

Masurisch wird im Nordosten Polens, in den Masuren gesprochen. Der westslawische Stamm der Masowier besiedelte von Süden aus die Masuren und waren bis zum Jahr 1000 ein unabhängiger Volksstamm. Der polnische Piastenfürst Bolesław Chrobry unterwarf sie und gliederte das Gebiet in sein Reich ein. Im Laufe der Zeit gerieten Masowier unter die Herrschaft des Deutschen Ordens, der die Christianisierung vorantrieb. Eigentlich waren die Masowier Fischer und Bauern, zogen aber durch die Siedlungspolitik auch vermehrt in die neu gegründeten Städte wie Pisz, ehemals Johannisburg. Auch die Frage der Konfession ist in Masuren nicht pauschal zu beantworten. Die Reformation und Gegenreformation schuf eine gemischte Bevölkerung, die Gebiete der Masowier sind weitestgehend evangelisch, nur rund um Allenstein, heute Olsztyn, katholisch.

Die Industrialisierung zog im 19. Jahrhundert viele Menschen aus den masurischen Gebieten in Richtung Westeuropa. Die beiden Weltkriege verstärkte diese Tendenz und befeuerte die Assimilation der Masurisch-Sprechenden weiter. Der Bevölkerungsschwund wirkte sich auch auf die Sprache aus.  Man geht von etwa 80.000 Sprechern vor 1945 aus, heute sind es Schätzungen zufolge noch 15.000.

Heute sind die meisten Masurischsprechenden polnische Staatsbürger, pflegen aber auch ihre masurischen Wurzeln. Es gibt verstärkt Bemühungen die Sprache bzw. den Dialekt zu stärken.

Das Masurische weist interessante Unterschiede zum Standardpolnischen auf. Das Augenscheinlichste ist das sogenannte ‚Masurieren‘, d.h. die polnischen Laute /cz/, /sz/, /ż/, /dż/ wie /c/, /s/, /z/ ausgesprochen werden z.B. wird aus ‚czapka‘ → ‚capka‘ (dt. Mütze), jedoch kann man es auch in anderen Gegenden im Osten Polens hören.  Auch die Tendenz velare Laute /k/, /g/ und /ch/ vermehrt palatalisiert als /ć/, /dź/ und /ś/ auszusprechen, ist typisch für die Masuren. Die Nasalvokale des Polnischen /ą/ und /ę/ verlieren hier ihre Nasalität und werden zu /ɔ/ und /ɛ/. In einigen Fällen kann im Masurischen die obligatorische Erweichung von Konsonanten vor /i/ in eine harte Aussprache wechseln, polnisch ‚lipa‘- ‚Linde‘ oder ‚posłuchali’- ‚sie hörten‘ in ‚lypa‘ oder ‚posłuchaly‘.

Auch in der Grammatik zeigen sich ein paar kleine Abweichungen von Polnischen z.B. die Endung -i statt des üblichen -ej im Genitiv und Dativ der weiblichen Substantive.

In der Lexik zeigt sich ein hoher Anteil an deutschen Entlehnungen z.B. ‚bónÿ‘ – ‚Bohnen‘ oder ‚prÿnc‘- ‚Prinz‘, was auf den historischen Kontakt zurückzuführen ist, genauso wie Anteile pruzzischer Wörter. Die Masuren weisen wegen der abweichenden Lexik oft auf den Status einer eigenen Sprache hin, linguistisch gesehen machen aber die Unterschiede im Wortschatz allein noch keinen Dialekt zu einer eigenen Sprache.

Die masurische Literaturlandschaft musste mit der Tatsache umgehen, dass es für das Masurische keine einheitliche Schriftsprache gibt und ihre Autoren entweder auf Deutsch oder Polnisch schreiben bzw. schrieben. Bekannte Vertreter sind Erwin Kruk, Siegfried Lenz und Fritz Skowronnek, die alle aus den Masuren stammen.

Im Allgemeinen sind die Dialekte in Polen einem stetigen Schwund ausgesetzt. Ob die Masuren es schaffen, in Konkurrenz zum Standardpolnischen zu bestehen, wird die Zeit zeigen.

Quellen

Hentschel, Gerd. Masurisch. In: Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens, Bd 10: Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Klagenfurt 2002

Kossert, Andreas. Masuren, Ostpreußens vergessener Süden. Siedler, Berlin 2001

http://www.dialektologia.uw.edu.pl/index.php

Oberschlesien

Die mit viel Geschichte behaftete Region Oberschlesien gehört heute zum größten Teil zu Polen, ein kleiner Teil zu Tschechien. Das Gebiet umfasst mit den Zentren Opole, Katowice und Ostrava (Tschechien) große Industrieregionen und war schon immer ein Zankapfel der Mächtigen.

Die ersten Siedler, von denen man weiß, waren westslawischen Mährer, die sich im früher Mittelalter ansiedelten. Bis ins 12. Jahrhundert wechselte die Machtansprüche zwischen Böhmen und Polen, bis zum Vertrag von Glatz 1137, der Oberschlesien dem polnischen König zusprach.1348 gliederte man Schlesien, im Vertrag von Namslau, dem Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ein.

Im Ersten Schlesischen Erbfolgekrieg (1740–1748) besetzte Preußen die Region, die bis dahin von den Habsburgern regiert wurde. Nach dem Friedenschluss von Aachen fiel der Großteil Oberschlesiens endgültig an Preußen und galt fortan als fester Teils Preußens, der nach 1918 zwischen Deutschland und Polen geteilt wurde. Der wesentlich kleinere Teil blieb nach 1748 österreichisch und wurde nach Beendigung der Ersten Weltkrieges in die Tschechoslowakei eingegliedert. Nach 1945 verlor Deutschland seinen oberschlesischen Teil durch die Westverschiebung Polens an die Volksrepublik Polen, wodurch die deutschstämmige Bevölkerung fast komplett ausgewiesen wurde und nach Deutschland aussiedeln musste.

Die oberschlesische Bevölkerung war durch die historischen Ereignisse und die Herrscherwechsel von Beginn an ein polyethnisches Gemisch: Slawen, Germanen und andere Ethnien lebten dort. Je nach Zugehörigkeit der Region sprach man Deutsch, Tschechisch oder Polnisch, in manchen Städten dominierte die eine, in anderen die andere Sprache. Viele Herrscher warben auch Siedler aus anderen Ländern an, um die großen Waldgebiete zu roden und zu besiedeln. Dafür gab es Land und Steuervergünstigungen.

Die Christianisierung Oberschlesiens, etwa im 10. Jahrhundert, fand im Zusammenhang mit der Missionierung aller slawischen Stämme in Böhmen und Polen statt. Während der Reformation blieben die Oberschlesier dem katholischen Glauben treu, im Gegensatz zu den meisten Niederschlesiern. Auch Juden lebten im oberschlesischen Raum, meist in den Städten, da sie kein Land erwerben durften. Sie waren immer wieder Anfeindungen ausgesetzt, gehörten bis zum Holocaust aber zum gewohnten Stadtbild.

Das Nebeneinander der Ethnien wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch Vertreibung und Neuansiedlung von Polen aus den polnischen Ostgebieten, den ‚Kresy‘, zu einer vom Staat gewollten polnischen Homogenität vereinheitlicht. Die Kulturvielfalt, die sich Oberschlesien über die Jahrhunderte erarbeitet hat, verging.

Schlesien war nicht nur ein Zentrum des Handels und der Industrie, sondern birgt bis heute Kulturschätze in Hülle und Fülle. Vor allem die christlich motivierten Bräuche und Traditionen verbinden die Menschen in Oberschlesien, egal ob sie Polen oder Angehörige der deutschen Minderheit sind. Beispielhaft für die Region wäre das Osterreiten oder das Erntedankfest. Es gibt dabei auch oft Ähnlichkeiten mit den Bräuchen der Sorben wie das ‚Zampern‘, das in Schlesien ‚Comber‘ heißt.

Unabhängig von der Nationalität weist Oberschlesien eine beachtliche Liste von Künstlern auf, vor allem Schriftsteller, die sich oft zuerst als Oberschlesier sehen und danach als Deutsche oder Polen. Im deutschen Raum ist den meisten der Schriftsteller Joseph von Eichendorff bekannt, der als einer der wichtigsten deutschen Romantiker gilt. Besonders interessant sind, meiner Meinung nach, die Autoren jüngerer Geschichte wie Horst Bienek oder Horst Eckert (alias Janosch), die beide im „deutschen“ Oberschlesien geboren sind und nach dem Krieg als Deutsche nicht bleiben konnten.

Den Sportfan sind im schlesischen Kontext die Fußballspieler Miroslav Klose (geboren in Opole) und Lukas Podolski (geboren in Gliwice) bekannt.

In den letzten Jahrzehnten, nach Ende des Kalten Krieges und der beginnenden Aufarbeitung der Deutsch-polnischen-(tschechischen) Geschichte wächst das Interesse an der Kultur Schlesiens. Die Minderheiten in Polen kämpfen vermehrt für ihre Rechte, ihre Sprache und Anerkennung im polnischen Staat. In Deutschland war es lange Zeit ein Tabu über die schlesischen Gebiet als ‘deutsche Gebiete’ o.ä. zu sprechen. Viele Menschen, die von dort stammen, sehen sich in erster Linie als Oberschlesier und danach erst als Deutsche oder Polen. Sie möchten ihre Herkunft nicht verschweigen und ihre Kultur pflegen.

In Deutschland haben sich schon kurz nach dem Krieg viele sogenannte Heimatverbände gebildet, die sich für den Schutz der schlesischen Kultur und Sprache stark machten. Im Verlauf der Jahre sind die Bemühungen der Schlesier auf polnischer und deutscher Seite von der Tatsache betroffen, dass der Anpassungsprozess, der Schlesier in Polen und der Schlesier in Deutschland an die jeweilige Kultur des Landes, immer weiter voranschreitet und das öffentliche Interesse der Bevölkerung schwindet. Der Schutz der schlesischen Kultur bedarf also dem Engagement der Schlesier und der Unterstützung der Landesregierungen.

Quellen

Herzig, Arno. Geschichte Schlesiens – vom Mittelalter bis zur Gegenwart. C.H.Beck, München 2015

Vetter, Reinhold. Schlesien – Deutsche und polnische Kulturtraditionen in einer europäischen Grenzregion. DuMont Verlag, Köln 1999

Wisława Szymborska

Die erste polnische Literatur-Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska hat im Vergleich zu anderen Schriftsteller*innen nur wenig geschrieben, etwa 350 Gedichte. Doch diese Gedichte sind weltweit beliebt und in über 40 Sprachen übersetzt worden!

Wisława Szymborska gilt als eine der bedeutendsten Lyrikerinnen Polens. Sie wurde am 02.07.1923 in Kórnik, nahe Poznań, geboren und studierte nach dem Zweiten Weltkrieges in Krakau Polonistik und Soziologie. In den 50er Jahren veröffentlichte sie erste Gedichte in der Dziennik Polski, einer polnischen Tageszeitung. Ab 1953 arbeitet Szymborska bei der Krakauer Literaturzeitschrift Życie Literackie, war verantwortlich für eine Lyrikkolumne und schrieb auch Rezensionen. Als im Dezember 1981 das Kriegsrecht als Reaktion auf die Demokratisierungsversuche verhängt wurde, verließ sie die Życie Literackie und schrieb fortan für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften in Polen. Unter dem Pseudonym Stańczykówna schrieb sie neben ihrer offiziellen Tätigkeit auch noch für die Kultura, eine Exilzeitung in Paris, und veröffentlicht in Samisdat-Verlagen Schriften, die nicht offiziell publiziert werden konnten.  

Szymborska scheute das Rampenlicht, war sich gegenüber mehr als kritisch. Vielleicht erklärt das die wenigen Publikationen, denn sie schrieb immer sehr produktiv, verwarf aber das meiste wieder. Aus ihrem Privatleben offenbarte sie nur wenig. „Öffentlich von sich zu sprechen, lässt das Innere verarmen“, meinte sie einmal.

Ein Meilenstein in Szymborskas Leben war sicherlich die Anerkennung ihrer Leistungen mit dem Erhalt des Literaturnobelpreises 1996, der sie weit über Polen hinaus bekannt machte.

Infolge einer Krebserkrankung verstarb Wisława Szymborska am 1. Februar 2012 und wurde in Krakau beigesetzt. Ihre letzten unvollendeten Gedichte wurden schon kurz nach ihrem Tod im April 2012 in dem Band Wystarczy (dt. Es ist genug) herausgegeben.

Zu Beginn ihrer schriftstellerischen Tätigkeit schreibt Szymborska ganz im Sinne des Sozialistischen Realismus, der in Polen quasi von oben vorgegeben wurde. Ihr Lyrikband Wołanie do Yeti (dt. Rufe an Yeti) von 1957 war ein großer Erfolg in Polen. Dabei spielen Narrative wie das Leben im Sozialismus und eine idealisierte Welt im Vordergrund.  Die Möglichkeit frei zu schreiben und zu veröffentlichen, gab es in Polen lange Zeit nicht. Kritiker warfen Szymborska oftmals vor zu angepasst und linientreu gewesen zu sein.

Mit den Jahren distanzierte sich Szymborska von ihrer früheren Art zu schreiben. Das bedeutet nicht, dass sie ihre Werke als nicht gelungen oder lesenswert ansah, sie waren einfach anders. In späteren Gedichten spürt man mehr Ironie, die sich sogar auf die eigenen Gedichte von früher beziehen kann. Die Verbesserung des politischen Klimas in Polen ließ das Schreiben freier und authentischer werden. Davon profitierte auch Szymborska. Der Ton in ihren Gedichten wird philosophischer und nachdenklicher, sie schreibt über Gefühle, Gedanken und ihre Sicht auf das Leben und den Tod.

Abgesehen von den Themen ist auch Szymborskas Schreibstil wechselnd, er passt sich dem jeweiligen Thema und der Situation des Gedichtes an. Statt vieler Symbole oder Metaphern verwendet sie eine, auf den ersten Blick, einfache Sprache. Doch diese Einfachheit ist verbunden mit Leichtigkeit und Authentizität. Erscheint das Thema noch so banal, so verändert der Blickwinkel die Perspektive des Lesers.

Die Polen lieben ihre Lyrik, auch die Gedichte Wisława Szymborskas stehen für das Wesen und den Stolz der polnischen Nation.

Quellen

Brigitta Helbig-Mischewski: Sozrealistische Lyrik von Wisława Szymborska. In: Alfrun Kliems, Ute Raßloff, Peter Zajac (Hrsg.): Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa. Band 2: Sozialistischer Realismus. Frank & Timme, Berlin 2006,

Marta Kijowska: „Der Weg vom Leid zur Träne ist interplanetarisch.“ Wisława Szymborska (* 1923), Nobelpreis für Literatur 1996. In: Charlotte Kerner (Hrsg.): Madame Curie und ihre Schwestern. Frauen, die den Nobelpreis bekamen. Beltz, Weinheim/Basel 1997

Interslawisch – eine slawische Plansprache

Neben der weltweit bekannten Plansprache Esperanto gibt es für alle Sprachfamilien entwickelte Plansprachen. Im slawischen Sprachraum entstand 2006 unter der Führung des niederländischen Sprachwissenschaftler Jan van Steenbergen die slawische Plansprache Slovianski, heute Medžuslovjansky, dt. Interslawisch. Das Ziel dieser Plansprache ist die verbesserte Verständigung von Sprechern slawischer Sprachen und einen erleichterten Einstieg in slawische Sprachen für Sprecher anderer Sprachen.

Interslawisch ist eine naturalistische Plansprache, das klingt im ersten Moment paradox, aber alle Elemente sind aus slawischen Sprachen entnommen, was es den Sprechern ermöglicht auf ihre Muttersprache beim Erschließen zurückzugreifen. Bei anderen slawischen Plansprachen wie z.B. Slovio sind die Sprachelemente mit künstlichen Anteilen versehen, was die Verständigung schwerer macht.

Interslawisch greift vor allem auf den gemeinsamen Ursprung der slawischen Sprachen zurück, das Altkirchenslawische. Dadurch können Sprecher slawischer Sprachen meist problemlos verständigen. Die sprachlichen Besonderheiten jeder slawischen Sprache versucht man zu vermeiden, um auf den größtmöglichen gemeinsamen Nenner zu kommen.

Die Sprecherzahlen des Interslawischen variieren, man geht von etwa 2000 aus, es gibt aber keine offiziellen Zahlen. Viele Interessierte sprechen die Sprache nicht, können sie aber lesen und verstehen. Das Besondere ist auch, dass man Interslawisch sowohl in lateinischer als auch in kyrillischer Schrift schreiben kann. Dieser Punkt ist sehr wichtig, weil die slawischen Sprachen in sich selbst nicht einfach in der Schrift wechseln können, mit Ausnahme des Serbischen.

Um eine möglichst reibungslose Verständigung zu erreichen, muss man bei der Entwicklung einer Sprache viele Parameter beachten. Als erstes und für die meisten der wichtigste Punkt ist der Wortschatz. Es ist ein Querschnitt fast aller slawischen Sprachen

Allen Plansprachen weisen eine strukturelle Vereinfachung der Grammatik als Charakteristikum auf, denn die Erlernbarkeit hängt stark von den Gemeinsamkeiten ab, Unterschiede werden also eher ausgeklammert. Auch für Sprecher anderer Sprachfamilien erleichtert es den Einstieg ins Slawische. Wer sich schon mal mit den komplexen Paradigmen der verschiedenen slawischen Sprachen beschäftigt hat, weiß wovon ich spreche. Beim Interslawischen gibt es eine gewisse Reduktion der komplexen Strukturen, aber wichtiger ist die Regelhaftigkeit der Grammatik und die Vermeidung von Ausnahmen, die in allen Sprachen vorkommen und meist sprachspezifisch sind.

Typisch slawische phonologische Merkmale wie Palatalität bleiben im Interslawischen erhalten, auch wenn manche Basissprachen diese Unterscheidung weniger stark zeigen. Die Entwickler gehen davon aus, dass das Grundverständnis der Palatalität allen Sprechern slawischer Sprachen vertraut ist.

Die Orthografie ist weitestgehend phonetisch, also jedes Phonem soll einem Graphem entsprechen, vergleichbar mit der Orthografie des Esperantos.

Wer verschiedene slawische Sprachen spricht, kennt das Problem des Wortakzents, der innerhalb der Sprachen nicht einheitlich ist. Beim Interslawisch ist der Akzent freier als bei anderen slawischen Plansprachen, unterliegt aber trotzdem bestimmten Regeln z.B. liegt der Akzent auf dem Wortstamm, nicht auf Präfixen oder Flexionsendungen.

Die morphologischen Aspekte des Interslawisch lehnen sich stark an die Ursprungssprachen an. Für die Wortbildung gibt Derivation, aber so gut wie keine Komposition (ist in den slawischen Sprachen selten zu sehen).

Interslawisch besitzt 6 Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Instrumental und Lokativ), wie die meisten Slawinen. Die Kasusendungen werden regelhaft und eindeutig gestaltet. Im Fall der Kategorie Numerus wird ebenfalls vereinfacht, d.h. der Dual kommt nicht vor, es gibt nur Singular und Plural. Beim Genus sieht man maskulin, feminin und neutrum die Endungen sind wieder regelhaft z.B. enden maskuline Substantive auf einem harten Konsonanten, feminin auf -a oder weichen Konsonanten und die Neutra auf -o oder-e.

Van Steenbergen beschreibt den schwierigsten Teil der slawischen Sprachen mit dem Verbalaspekt, der Lernenden des Slawischen gerne in den Wahnsinn treibt. Das übliche Vorkommen perfektiver und imperfektiver Verben als Paar zeigt sich auch im Interslawisch, was für Sprecher slawischer Sprachen ganz natürlich ist, Neulernenden aber sichtlich Probleme bereitet. Erleichternd ist die Verwendung von nur drei Tempusformen (Präsens, Perfekt und Futur).

Die Wortstellung des Interslawischen ist nicht so frei wie man es aus den slawischen Sprachen kennt, obwohl es durch das Kasussystem möglich wäre. Van Steenbergen legt eine SVO-Stellung fest.

Betrachtet man alle Aspekte des Interslawischen im Vergleich zu den slawischen Sprachen, zeigt sich eine sichtbare Annäherung ans Slowenische und eine Distanz zu den ostslawischen Sprachen. Vielleicht liegt es daran, dass das Altkirchenslawische, das die Grundlage für das Interslawische bildet, im Slowenischen noch gut erhalten ist.

Nun könnte man sich fragen ob es sinnvoll ist statt einer natürlichen Slawine lieber eine Plansprache zu lernen? Ein Vorteil des Interslawischen ist offensichtlich die große Wiedererkennbarkeit für alle Sprecher des Slawischen und der vereinfachte Zugang eines Sprechers einer nichtslawischen Sprache. Ein Nachteil ist ebenso offensichtlich: Die Sprecherzahl des Interslawischen ist sehr gering, während z.B. Ukrainisch ca. 40 Mio. Sprecher hat. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit jemanden zu finden, der Interslawisch spricht anstatt Ukrainisch? Zwischen Slawischsprechern können einige Transferstrategien schon zur Verständigung beitragen, ohne eine Plansprache nutzen zu müssen. Trotzdem ist die Idee einer verbindenden Sprache interessant, wenn auch nur theoretisch relevant.

Quellen

Barandovská-Frank, Věra (2011). Panslawische Variationen. Florilegium Interlinguisticum. Peter Lang Internationaler Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main

Meyer, Anna-Maria (2016). Slavic constructed languages in the internet age. Language Problems & Language Planning, vol. 40 no. 3, University of Bamberg Press Bamberg 2014

Wódny muž – Der sorbische Wassermann

Übernatürliche Wesen, die mit dem Element Wasser assoziiert werden, gibt es in allen Kulturkreisen. Das Wasser wird einerseits als lebensspendend und heilig angesehen, andererseits birgt es aber auch das Geheimnisvolle und Gefährliche in sich. Diese Ambivalenz zeigt sich auch in den mythischen Wesen, die im oder am Wasser leben. Sie sind weder grundsätzlich gut oder böse, je nach Situation treten sie als Helfer oder als todbringende Figur auf. Übernatürliche Wesen sind eine Art Schnittstelle zwischen menschlich und göttlich. Sie vereinen Eigenschaften beider in sich. Im Unterschied zu Göttern sind diese Geisterwesen oft an Elemente oder ortsgebundene Kräfte gebunden z.B. an das Wasser.

Eins dieser Wesen ist der Wódny muž (Wassermann) aus den sorbischen Legenden, in der slawischen Mythologie auch als Wodjanoi, Vodyanoy oder Vodník (tschechisch) bekannt. Die Verbindung zum Wasser ist in der Lausitz und dem Spreewald allgegenwärtig. Wasserwege wurde seit jeher zum Transport genutzt und die Mühlen funktionieren mit Wasserkraft. Der Glaube an mythische Wesen ließ den Wassermann zu einer festen Größe, vor allem in der nördlichen Oberlausitz, werden. In der Niederlausitz kennt man ihn weniger und dann eher als Nix.

Der Wódny muž hält sich besonders gerne am Wasser auf, wohnt an Mühlen oder Teichen. Er wird, je nach Literatur, als menschliche Gestalt, blass, hässlich, manchmal als eine Art Wasserleiche (obwohl er nicht als tot angesehen wird), mit trüben Augen, als alter oder junger Mann beschrieben. Das Aussehen passt meistens auch zu seinen wechselnden Eigenschaften.

Im sorbischen Raum wird der Wódny muž entweder als böse Figur beschrieben, die die Menschen ins Wasser lockt (früher konnten nur wenige Menschen schwimmen) und sie verschlingt oder, ähnlich wie viele andere ambivalente Wesen als hilfsbereit, wenn man ihm freundlich und ebenfalls hilfsbereit gegenübertritt.

Einige Geschichten berichten darüber, dass Fischer den Wódny muž in ihren Fischernetzen fingen und ihn auf sein Bitten wieder frei ließen, nachdem er ihnen reiche Entlohnung versprochen hatte oder ihnen beim Fischen die Fische ins Netz trieb. Auch armen Bauern half der Wódny muž, in dem er ihnen Saatgut lieh o.ä. Wer die Freundlichkeit des Wódny muž ausnutzte, musste mit Strafen rechnen. Dieses System kennen wir auch aus vielen Märchen. Es hat einen erzieherischen Charakter z.B. erzählen Eltern ihren Kindern Geschichten über den Wódny muž, damit sie nicht allein an Teichen oder Flüssen spielen.

Wasserwesen wie der Wassermann stehen aber auch im Zusammenhang mit Wetterphänomenen wie Regen oder Gewitter, da die Abhängigkeit von Wetter und Jahreszeiten für die Menschen überlebenswichtig waren. Nicht nur die Hilfsbereitschaft des Wódny muž nutzte den Menschen, sondern auch seine Gunst sie vor Naturkatastrophen wie Überschwemmung oder Unwetter zu schützen bzw. zu warnen.

In der Mythologie werden auch die Frau und die Töchter des Wódny muž erwähnt. Eine Familie zu gründen, erscheint irgendwie sehr menschlich. Natürlich sind auch diese Frauen bzw. Mädchen Wasserwesen, die man meist als Nixen bezeichnet, während die seltenere Bezeichnung Nix für den Wassermann kaum verwendet wird. Im Gegensatz zu dem eher hässlich und alt beschriebenen Wódny muž, sind die Frauen oft jung und hübsch.

Der Wódny muž wohnt häufig am Grund des Teiches oder Flusses und den Menschen ist es verboten sie zu sehen oder zu betreten. Eine Geschichte erzählt, dass eine Hebamme an einem Teich vorbei ging und vom Wassermann um Hilfe gebeten worden ist. Seine Frau lag in den Wehen und die Hebamme stiegt in den Teich, um zu helfen. Sie wurde für ihre Taten reich belohnt und kehrte heil aufs Trockene zurück.

Überall in der Lausitz erzählt man sich solche Geschichten, mal mit mehr oder weniger schlechten Attributen des Wódny muž. Gerade diese Ambivalenz macht ihn für Geschichten so geeignet und wandelbar.  

Quellen

Schneider, Erich. Sagen der Lausitz. Eine Auswahl. 4. Auflage. Domowina-Verlag, Bautzen 1965

Zdeněk, Váňa. Mythologie und Götterwelt der slawischen Völker. Die geistigen Impulse Ost-Europas, Urachhaus, Stuttgart 1992

Das Lorm-Alphabet

Alphabtete werden von uns meist mit Schrift assoziiert, wir lesen und schreiben sie je nach Sprache, die wir verwenden. Doch kann man Alphabete auch anders als in Schriftform verwenden? Na klar, dafür müssen wir auch nicht lange suchen: Das Lorm- Alphabet ist eins der bekanntesten Beispiele für ein nicht-geschriebenes Alphabet als Kommunikationsmittel für blinde und gehörlose Menschen, anders als es z.B. in der Brailleschrift verwendet wird.

Der Erfinder des Lorm-Alphabets ist der Schriftsteller und Literaturkritiker Hieronymus Lorm (1821-1902), eigentlich Heinrich Landesmann, der selber durch eine Erkrankung früh sein Gehör und den Großteil seines Sehvermögens verlor und im späteren Leben vollständig erblindete. Sein Alphabet nutzte er vor allem innerhalb der Familie und mit engen Freunden, richtig bekannt wurde es erst nach seinem Tod.

Mittlerweile ist das Lorm-Alphabet im deutschsprachigen Raum und einigen Ländern Europas wie den Niederlanden und Tschechien etabliert, vor allem weil es schnell zu lernen und effizient in der Anwendung ist.

Der „Sprechende“ buchstabiert in eine Hand (meist die linke) des „Lesenden“. Die Buchstaben werden an verschiedenen Orten der Finger oder Handfläche „gesprochen“ entweder als tippende, gestrichen oder umfassende Berührung. Bei den Strichen unterscheidet das Lorm-Alphabet zusätzlich zwischen Auf- und Abstrich. Die Buchstaben, die getippt werden, befinden sich größtenteils an der Fingerenden, gestrichene Buchstaben an den Grundgliedern der Finger und der Handinnenfläche. Damit wird das taktile System der Hand optimal ausgenutzt, da Finger und Handfläche unterschiedlich viele Nervenenden besitzen, d.h. taktile Reize unterschiedlich gut verarbeiten können.

Schon nach ein wenig Üben kann man mit diesem Alphabet kommunizieren, für ein flüssiges Tempo beim Buchstabieren und Verstehen ist allerdings einiges an Training nötig, wie aber bei allen Dingen, die wir neu lernen. Oder wer hat ohne Üben lesen und schreiben gelernt? Es ist auch möglich verschiedene Sprachen damit zu buchstabieren z.B. Englisch, da sich die Buchstaben ja nicht unterscheiden. Bei Sprachen wie Tschechisch werden einige Veränderungen vorgenommen, das Prinzip bleibt aber erhalten.

Hier eine Übersicht des (deutschen) Lorm-Alphabets, entnommen von http://www.taubblindenwerk.de/haeufig-gestellte-fragen/lormen/

A = Punkt auf der Daumenspitze

B = Kurzer Abstrich auf die Mitte des Zeigefingers

C = Punkt auf das Handgelenk

D = Kurzer Abstrich auf die Mitte des Mittelfingers

E = Punkt auf die Zeigefingerspitze

F = Zusammendrücken der Zeige- und Mittelfingerspitzen

G = Kurzer Abstrich auf die Mitte des Ringfingers

H = Kurzer Abstrich auf die Mitte des Kleinfingers

I = Punkt auf die Mittelfingerspitze

J = Zwei Punkte auf die Mittelfingerspitze

K = Punkt mit vier Fingerspitzen auf dem Handteller

L = Langer Abstrich von den Fingerspitzen zum Handgelenk

M = Punkt auf die Kleinfingerwurzel

N = Punkt auf die Zeigefingerwurzel

O = Punkt auf die Ringfingerspitze

P = Langer Aufstrich an der Außenseite des Zeigefingers

Q = Langer Aufstrich an der Außenseite der Hand

R = Leichtes Trommeln der Finger auf dem Handteller

S = Kreis auf dem Handteller

T = Kurzer Abstrich auf die Mitte des Daumens

U = Punkt auf die Kleinfingerspitze

V = Punkt auf den Daumenballen, etwas außen

W = Zwei Punkte auf den Daumenballen, etwas von außen

X = Querstrich über das Handgelenk

Y = Querstrich über die Mitte der Finger

Z = Schräger Strich vom Daumenballen zur Kleinfingerwurzel

Ä = Zwei Punkte auf die Daumenspitze

Ö = Zwei Punkte auf die Ringfingerspitze

Ü = Zwei Punkte auf die Kleinfingerspitze

CH = Schräges Kreuz auf den Handteller

Sch = Leichtes Umfassen der vier Finger

St = Langer Aufstrich am Daumen (Außenseite)

Abzugrenzen ist das Lorm-Alphabet von anderen Kommunikationsformen wie das Daktylieren oder das Fingeralphabet. Die Verwender des Lorm-Alphabets müssen sich, anders als z.B. bei der Gebärdensprache, dem System des Alphabets innerhalb einer Sprache bewusst sein, d.h. Kinder, die noch nicht schreiben und lesen gelernt haben, können sich damit kaum verständigen. Für Menschen, die erst im Laufe ihres Lebens erblinden oder ihr Gehör verlieren, durch Krankheit etc., macht das Alphabetsystem keine Schwierigkeiten, wenn sie nicht kognitiv eingeschränkt sind, was eine weitere Schwierigkeit darstellen würde.

Quellen

Peter Hepp: Die Welt in meinen Händen. Eine Leben ohne Hören und Sehen. Ullstein, Berlin 2007

https://fakoo.de/lorm.html

http://www.taubblindenwerk.de/haeufig-gestellte-fragen/lormen/

Baltische Mythologie

Eigentlich ist der Begriff „Baltische Mythologie“ ein Sammelbegriff, denn er beinhaltet drei Mythologien: die der Letten, Litauer und Prußen. Sie haben zwar alle den gleichen Ursprung und, wegen der geografischen Nähe, auch ähnliche Namen und Bezüge, aber unterscheiden sich doch deutlich voneinander. Auch die Quellen gehen, vor allem zahlenmäßig, weit auseinander.

Die Gebiete der Balten (ich nutze den Begriff als Verallgemeinerung und beziehe mich dabei auf alle drei Gruppen) umfasst das Gebiet zwischen Weichsel und Memel (Prußen), Memel und Düna (Litauer) und Livland (Letten). Sie lebten dort wahrscheinlich als einfache Bauern, organisierten sich aber in Gruppen, um sich vor allem gegen ihre stärkeren Nachbarn z.B. die slawischen Stämme zu verteidigen. Ab wann genau die Balten dort lebten, ist nicht ganz geklärt. Erste schriftliche Erwähnungen finden sich in Quellen aus dem ersten Jahrhundert nach Christus. Man geht davon aus, dass die baltischen Stämme die Gebiete erst nach den Slawen besiedelten, Grenzstreitigkeiten ergaben sich damit von selbst.

Die heidnischen Stämme wurden im Mittelalter vom Deutschen Orden christainisiert, der von Polen aus immer tiefer ins Baltikum vorrückte. Vor allem die Prußen passten ihre Bräuche und Traditionen schnell an die christliche Lehre, was vielleicht auch an ihrer Stammesstruktur lag, die eine Anpassung erleichterte.

Die Litauer sahen in der Christianisierung eine politische Chance sich mehr an Polen zu binden, das schon vorher zum christlichen Glauben übergetreten war. Damit verlief eine religiöse Grenze zwischen ihnen, die durch die Bekehrung des Litauers Jogaila (poln. Władysław II. Jagiełło) und der Heirat mit Hedwig von Anjou (poln. Jadwiga Andegaweńska) endgültig verschwand.

Die Letten hatten nie solch eine staatsähnliche Struktur wie die Prußen, sie wurden im 12. Jahrhundert christianisiert, lebten aber eher ländlich und verstreut. Das ermöglichte ihnen, trotz des christlichen Glaubens, an ihren heidnischen Bräuchen und Traditionen festzuhalten.

Die Prußen lebten einen Polytheismus, der vor allem auf Naturgeister beruhte, die in Tieren und Pflanzen oder auch in Sonne und Mond lebten. Die Idee, die Natur als göttlich oder heilig anzusehen, ist nicht ungewöhnlich, aber die Intensität ist bei den Prußen auffällig. In ihrem Siedlungsgebiet gab es heilige Stellen, meist im Wald, in denen kein Holz geschlagen und nicht gejagt werden durfte. Sehr wahrscheinlich ist, dass es eine Art Priester für Zeremonien gab. Interessanterweise glaubten die Prußen an ein Jenseits, was sich an ihren Begräbnisszeremonienen erkennen lässt: Sie geben den Toten Grabbeigaben mit und versorgten auch ihre Ahnen mit regelmäßigen Opfergaben wie Teile der Ernte oder Opfertiere. Die Namen von Gottheiten sind nur spärlich überliefert. Curche, Patollos und Natrimpe scheinen sicher zu sein, aber da auch die Natur an sich als heilig angesehen wurde sind die Übergänge fließend.

In der Mythologie der Litauer erkennt man eindeutige Einflüsse der Slawen, die aufgrund der geografischen Nähe nicht ungewöhnlich sind. Auch die These, dass sich vom Indogermanischen erst eine ur-baltoslawische Sprache abgespalten hat, die sich später in baltisch und slawisch trennte, mag eine Erklärung für die Ähnlichkeiten sein. Die schriftlichen Quellen, von christlichen Gelehrten, zeigen zwar ein klares Bild, sind aber nicht wohlwollend geschrieben und kritisieren das Brauchtum mit Opfergaben usw.

Ähnlich wie die Germanen und Slawen verehrten die Litauer eine Reihe von Gottheiten, die meist auf Natur oder Naturphänomenen beruhen. Einer der bekanntesten Götter ist Perkunas, ein Himmel- und Donnergott, und Laima, die Göttin des Schicksals, die noch zwei Schwestern hat, wobei sich da sofort der Vergleich mit den drei Nornen aus der nordischen Mythologie aufdrängt.

Es gab noch weiter Götter, zum Schutz für Haus und Hof oder für das Vieh, denen man regelmäßig Opfer darbrachte. Die Frage, ob es Tempel für diese Zeremonien gab, lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Wahrscheinlich ist, dass die heiligen Wälder oder Haine Orte der Zeremonien waren. Wie die Prußen zelebrierten auch die Litauer die Feuerbestattung mit großem Eifer, wertvolle Beigaben inklusive. Durch die Christianisierung ging dieser Kult aber schnell verloren.

Bei den Letten sehen wir große Ähnlichkeiten zu den Litauern und Prußen. Trotzdem konnten die Letten ihre Traditionen und Bräuche noch bis weit über das Mittellalter bewahren, obwohl sie schon im 13. Jahrhundert vollständig christianisiert waren. Der Kontrast zwischen der Oberschicht, die den alten Glauben ablehnte, und der einfachen Landbevölkerung zeigt sich im Umgang mit den heidnischen Bräuchen sehr stark. Auch in der lettischen Mythologie spielen Gegensätze wie Himmel und Erde, Sonne und Mond eine entscheidende Rolle. Die Gottheiten des Himmels sind vorwiegend männlich z.B. Pērkons, der Donnergott oder Dievs, der Himmelsgott, während viele weibliche Göttinnen sich um die Erde, Wachstum (sogenannte Müttergöttinnen – Mātes) und das Schicksal (Laima) kümmern. Auch die Letten betrieben einen intensiven Opfergabenkult, um für Sicherheit und Gesundheit von Familie, Hof und Haus zu bitten.

Allgemein kann man auf nur wenige schriftliche Überlieferungen der Balten zurückgreifen, doch es gibt, zumindest für die Litauer und Letten, eine Sammlung von Gedichten und Liedern (ähnlich wie die isländische Edda), die lettischen Dainas bzw. litauischen Dainos. Sie geben nicht nur Auskunft zur Kultur, sondern sind auch für Sprachwissenschaftler eine Forschungsquellen. Weitere schriftliche Quellen sind vorwiegend in Chroniken oder Berichten von christlichen Schreibern zu finden, deren Objektivität meist angezweifelt werden kann.

Die Mythologie im baltischen Raum erlebt in den letzten Jahrzehnten eine Art Renaissance, es bildeten sich im 20. Jahrhundert sogenannte neuheidnische Religionsgemeinschaften. Bekannt und recht beliebt sind die beiden Gruppen Dievturi in Lettland und Romuva in Litauen. Sie greifen auf die heidnischen Elemente zurück und betonen vor allem die Einheit von Mensch und Natur.

Quellen

Biezais, Haralds. Germanische und baltische Religion in Die Religionen der Menschheit. Band 19/1. Kohlhammer, Stuttgart 1975

Grimal, Pierre. Mythen der Völker III. Fischer Bücherei. Hamburg 1963

Polnisch – so nah, doch so unbekannt

Mit bis zu 55 Millionen Sprechern (hier sind alle Sprecher*innen mit eingerechnet) ist das Polnische die größte westslawische Sprache, in der slawischen Sprachfamilie belegt es hinter Russisch den zweiten Platz. Wie alle slawischen Sprachen stammt es aus der riesigen Sprachfamilie des Indoeuropäischen, aus dem sich das Slawische abgespalten hat.

Die slawischen Stämme, die Polnisch oder einen Dialekt davon sprachen siedelten um die Flüsse Weichsel, Warthe und Oder. Wann genau die polnische Sprache entstand kann man nicht genau sagen, aber die ersten Zeugnisse stammen aus der Zeit um 1100. Die vorherige Erwähnung der Sprache findet sich vereinzelt in Chroniken, die Missionare verfassten, wurde aber nicht überliefert. Als erstes Zeugnis gilt die Bulle von Gnesen aus dem 12. Jahrhundert, in der Namen und Ortschaften in Polnisch zu lesen sind.

Als Sprache in Literatur und Verwaltung nutze man lange Zeit das Lateinische, da das Gebiet der Westslawen mehrheitlich katholisch geprägt war. Erst ab dem 14. Jahrhundert nutzte man Polnisch als Literatursprache, Zeugnisse sind z.B. die Bogurodzica oder der Florianer Psalter.

Die ereignisreiche Geschichte Polens gipfelte 1795 in der endgültigen Teilung Polens, in dessen Zuge auch die polnische Sprache in den geteilten Gebieten zurückgedrängt wurde. Polnisch war in der Teilungszeit eher Familiensprache, denn die Verwaltung und die Schulbildung wurde von den Teilungsmächten Preußen und Russland in der jeweiligen Landessprache verpflichtend eingeführt. Galizien, als Teil des österreichischen Reiches, behielt seine Sprachautonomie weitestgehend. Nach der Gründung der Zweiten Republik 1918 wurde Polnisch als Amtssprache wieder eingeführt. In den Nachbarstaaten Polens ist Polnisch als Minderheitensprache anerkannt, einzige Ausnahme ist Deutschland.

Neben dem Standardpolnischen gibt es zahlreiche Dialektgruppen, meist in 6 Gruppen unterteilt: Schlesisch, Großpolnisch, Kleinpolnisch, Masowisch, neue Mischdialekte und das Kaschubische, wobei das Kaschubische als eigene Sprache und nicht als polnischer Dialekt anerkannt ist.

Das Polnische wird in lateinischer Schrift geschrieben, die fehlenden typisch slawischen Laute werden mit Hilfe von diakritischen Zeichen wiedergegeben und ist meist phonetisch, was Lernenden den Anfang etwas erleichtert, wenn auch nur beim Schreiben.

Wie fast alle slawischen Sprachen ist das Polnische eine stark flektierende Sprache, was deutsche Sprecher*innen zu Beginn vor Probleme stellen kann. Auch das Vorhandensein von sieben Fällen, wobei der siebte langsam schwindet, sieht im ersten Moment schlimmer aus als es ist.

Die Aussprache des Polnischen ist gewöhnungsbedürftig, man hat oft das Gefühl es würden vor allem Vokale fehlen (die Tschechisch Sprechenden werden jetzt wahrscheinlich lachend abwinken) oder jemand hat einfach nur Konsonanten beim Scrabble gezogen, aber mit ein wenig Übung klappt es schon. Versucht doch mal ‚chrząszcz‘ auszusprechen (als kleine Hilfe: das ‚ą‘ spricht man wie das ‚on‘ in Bonbon). Was jetzt so typisch Französisch klingt, ist unter den slawischen Sprachen eine polnische Besonderheit: Die Nasalvokale /ą/ und /ę/. Das Urslawische hatte ursprünglich Nasalvokale, die aber nur im Polnischen und Kaschubischen, das will ich nicht unterschlagen, erhalten geblieben sind.

Durch die enge Nachbarschaft zum Deutschen sehen wir im Polnischen zahlreiche deutsche Entlehnungen z.B. handel – Handel oder ratusz – Rathaus. Aber auch das Deutsche hat einige Begriffe übernommen: die ‘Gurke’ kommt vom Wort ‘ogórek’ und das beliebte ‘Dalli!’ von ‘dalej’ -dt. ‘weiter‘.

Trotz der geografischen Nähe zu Deutschland gilt das Polnische für die Deutschen als exotisch, zu schwer oder einfach uninteressant. Die gemeinsame Geschichte und die vielen Ähnlichkeiten zwischen Deutschland und Polen lassen aber immer mehr Menschen den Reiz der polnischen Sprache erkennen. Spätestens seit dem EU-Eintritt Polens 2004 und der Nutzung des Polnischen als eine der 24 Amtssprachen der EU, ist die Präsenz der polnischen Sprache innerhalb Europas und vor allem in Deutschland gestiegen.

Selbst einfachste polnische Sprachkenntnisse werden in Polen mit Begeisterung aufgenommen. Probiert es mal mit einem einfachen ‚Dzień dobry!‘, gesprochen [d͡ʑɛɲ ˈdɔbrɨ], beim nächsten Besuch in Polen! Ein Lächeln des Gegenübers ist euch sicher!

Quellen

Miloš Okuka, Gerald Krenn (Hrsg.): Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Wieser Verlag, Klagenfurt/Celovec 2002

Peter Rehder (Hrsg.): Einführung in die slavischen Sprachen. 3. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1998

Jules Verne – Vater des Science-Fiction-Genres

„Alles, was ein Mensch fähig ist zu ersinnen, werden andere fähig sein zu verwirklichen.“

Dieses Zitat stammt von Jules Verne, einer der Begründer des Science-Fiction-Genres. Seiner Fantasie entsprangen Werke wie „20.000 Meilen unter dem Meer“ und „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“, deren Inhalt viele Generationen von Lesern bis heute begeistern.

Geboren wurde Jules-Gabriel Verne am 8. Februar 1828 in Nantes in eine privilegierte Familie, die ihm eine hervorragende Schulbildung und ein Studium ermöglichte. Seine Begeisterung für die Seefahrt entdeckte er schon früh. Seine Heimatstadt Nantes war eine blühende Hafenstadt und Schiffe faszinierten Verne von klein auf.

Schon in seiner Studienzeit begann Verne mit ersten literarischen Schreibversuchen, sein Studium in Paris ermöglichte ihm die Bekanntschaft mit der Pariser Literaturszene, zu der auch Alexandre Dumas gehörte. Durch ihn erhielt Verne Förderung und Bestätigung seiner Arbeit. Zu Beginn schrieb er verschiedene Texte, probierte sich aus, von Kurzgeschichten über Theaterstücke war alles mit dabei.

Er arbeitete nach dem Studium einige Zeit für das Theater, schrieb Stücke, beschäftigte sich aber auch mit eigenen Ideen. Seine berufliche Karriere lief nur schleppend, er versuchte sich als Makler, mit mittelmäßigem Erfolg. Privat lebte er bescheiden, heiratete und bekam Sohn Michel, der sich später dem Nachlass seines Vaters annahm.

Wie schon als Kind erhofft, unternahm er Ende der 1850er Jahre Schiffsreisen, unter anderem nach Norwegen und Schottland. Seine ersten Romane sprühen vor Begeisterung über die Seefahrt und Abenteuer. Verne Verleger Pierre-Jules Hetzel unterstützte diese Art von Abenteuerromanen, von denen Verne im Laufe der Jahre einige schrieb. Er tauchte nicht nur in die Seefahrerwelt ein, auch andere technische Neuerungen wollte er in seine Werke einbauen. Dafür recherchierte er intensiv, traf sich mit Wissenschaftlern, reiste viel und las sich ausgiebig.

Sein Interesse für Technik und dergleichen findet man in den Romanen, die oft ziemlich genau die zukünftigen technischen Erfindungen vorausnehmen, die für uns heute selbstverständlich sind. Auch die die Lust am Reisen begeisterte ein breites Publikum, die Ausgaben fanden guten Absatz, bis heute.

Schon sein erster Roman „Fünf Wochen im Ballon“ (1862) war ein großer Erfolg. Man kann sich vorstellen, dass die Faszination des Fliegens bei den Menschen den Erfolg des Buches unterstützte. Der Roman war der Auftakt zu einer ganzen Romanreihe, herausgegeben als Zyklus „Außergewöhnliche Reisen“.

Einige seiner bekanntesten Werke sind: „Reise zum Mittelpunkt der Erde“(1864), „Von der Erde zum Mond“ (1865), „20.000 Meilen unter dem Meer“ (1869) und „Reise um die Erde in 80 Tagen“ (1872), zumindest im deutschsprachigen Raum. Diese und viele andere sind in viele Sprachen übersetzt worden und werden regelmäßig neu aufgelegt.

Die anfänglichen finanziellen Probleme Vernes waren mit den erfolgreichen Romanen Geschichte, aber sein Glück wurde durch die familiären Probleme mit seinem Sohn getrübt. Er entwickelte sich nicht nach Vernes Wünschen. Wahrscheinlich ist, dass die häufige Abwesenheit des Vaters ein Grund für die Probleme war.

Jule Verne starb am 24. März 1905 in seinem Haus in Amiens (Frankreich). Sein Sohn Michel kümmerte sich viele Jahre lang um den literarischen Nachlass seines Vaters. Er gab unveröffentlichte Werke seines Vaters heraus und versuchte sich auch selbst am Schreiben.

Vernes Werke sind bis heute Klassiker der Literatur, vor allem für Fans der Science-Fiction- Literatur. Die in den Romanen vorkommenden Fahr- oder Flugzeuge sind zu Zeiten Vernes noch in weiter Ferne. Dies macht seine futuristischen Erzählungen so interessant für seine damaligen Leser. Doch auch in der heutigen Zeit kann man über Vernes Ideen ins Grübeln kommen, denn viele davon wurden schließlich wirklich (oder gerade dessen?) in die Tat umgesetzt. Auch der Flug zum Mond erscheint uns heute als nichts besonders, aber damals als Ding der Unmöglichkeit.

Wie vielen Schriftstellern, wird auch Jule Verne nicht von allen als ernstzunehmender Autor anerkannt. Seine Romane und Geschichten erscheinen als wenig tiefgründig, üben zu wenig Gesellschaftskritik und sprechen scheinbar nur ein begrenztes Publikum an. Dabei darf man nicht vergessen, dass einige seiner Romane mit großem Erfolg verfilmt wurden!

Verne selbst wird es nicht kümmern, was andere darüber denken. Er hat seine Faszination für Technik, Abenteuer und Reisen auf viele spannende Arten in großartige Geschichten verpackt, Tiefgründigkeit hin oder her. Die Welt wäre um einiges an Fantasie ärmer, gäbe es Jule Vernes Werke nicht. Und seien wir mal ehrlich: Wären wir nicht auch gerne mal in solch einer Geschichte wie Phileas Fogg oder Kapitän Nemo?

Quellen

Volker Dehs: Jules Verne. Eine kritische Biographie. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2005

Heinrich Pleticha (Hrsg.): Jules Verne-Handbuch. Verlagshaus Stuttgart, Stuttgart 1992

Regionen- mehr als Geografie?

Wir alle kennen den Begriff Region aus Schule und den Medien. Doch was bedeutet dieser Begriff eigentlich?

Der Wortbegriff Region geht auf das Lateinische zurück (regere- dt. leiten) und wurde früher vor allem im Sinne der Verwaltung verwendet. Heute vereint der Begriff viel mehr als eine geografische oder administrative Bedeutung. Die Geschichte einer Region lässt sich nicht in der reinen Geografie beschreiben. Dazu gehört auch ihre Sprache, Bräuche, Trachten und und und……vor allem die Menschen. Erst durch die Menschen, die diese Region ihre Heimat nennen, wird sie mit Leben gefüllt.

Identität und Region gehen in vielen Fällen Hand in Hand, ungeachtet ob natürlichen oder politischen Grenzen dies erschwerten. Geschichtlich ist das keine Seltenheit, wie wir noch sehen werden.

Jede Region ist, politisch gesehen, einem Staat untergeordnet, manchmal auch zwei oder drei Staaten. Das ist mehrheitlich eine politische Entscheidung, die Menschen der jeweiligen Region werden so gut wie nie nach ihrer Meinung gefragt. Ein gutes Beispiel ist die Politik Preußens in Elsass-Lothringen nach dem deutsch-französischen Krieg 1871, die im Zuge des ‚Frankfurter Friedens‘ der (auch französischen) Bevölkerung das Ultimatum stellt entweder ins französische Gebiet auszusiedeln oder die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, was mit einer starken Germanisierungstendenz der Politik einher ging. Den Menschen blieb also die Wahl zwischen dem Verbleib in der Heimat mit Identitätsverlust oder dem Heimatverlust mit schleichendem Identitätsverlust aufgrund der Assimilation an die neue „Heimat“. Wie soll man sich da entscheiden?

Unabhängig von der Identitätsfrage, hängt dem Begriff ‚Region‘ oft auch etwas Provinzielles an, fern der großen Metropolen, die schnell wachsen und die Mode diktieren. Doch genau dieser Schnelllebigkeit und Anonymität der Metropole entgeht eine Region, die in der Zeit stillzustehen scheint. Das Leben bleibt kleiner, langsamer, naturverbundener, traditioneller, aber nicht im Sinne der Rückständigkeit. Das regionale Leben setzt sich vom Leben in der Metropole ab, ist anders, ohne es zu werten.

Ich würde mal mutig behaupten, dass das Leben in der Stadt, in der Anonymität, für viele Menschen eine Möglichkeit ist anders als es erwartet wir. In einer kleineren Gemeinschaft oder auf dem Dorf kennt man sich, man wird in eine feste kulturelle Umgebung geboren, mit der sie sich (wahrscheinlich, aber nicht immer) identifizieren kann. Der Ort, an dem man aufwächst, erfüllt wichtige Funktionen der Identitätsfindung.

Wir alle kennen solche Regionen, in jedem Land gibt es sie, meist verbunden mit bestimmten Narrativen. Diese Narrative werden über Generationen entwickelt und weitergegeben. Schließlich prägen sie das Verständnis der Region und schaffen eine Identität der Region selbst. Die Menschen in der jeweiligen Region werden mit ihr assoziiert und bilden eine Einheit.

Wird diese Einheit aus verschiedensten Gründen gestört, können Konflikte entstehen. Oftmals in der Geschichte waren Kriege oder neue Grenzziehungen einer der Hauptgründe. Dabei wurde meistens die Bevölkerung vertrieben oder umgesiedelt, die Vertriebenen sehen sich zurück und haben Probleme sich in ihrer neuen Umgebung heimisch zu fühlen.

Ein Beispiel dafür ist Schlesien bzw. die Schlesier (hier sind die deutschstämmigen Schlesier gemeint), die noch heute ihre schlesischen Traditionen fern ab der Heimat pflegen. Zwar werden die nächsten Generationen Schlesien nicht mehr mit den gleichen Augen sehen wie ihre Vorfahren, aber das in der Familie vermittelte Heimatgefühl und die Identität als Schlesier wird weitergegeben. Daraus resultiert nicht nur das Heimatgefühl, sondern es entsteht auch Literatur und eine Sprachkultur, die sich meist auf die Heimat bezieht.

Welche Regionen ein solche Rolle im Leben der Menschen spielt, werden wir in dieser neuen Kategorie beleuchten.  

Quellen

Wolfgang Krumbein, Hans-Dieter von Frieling, Uwe Kröcher, Detlev Sträter (Hrsg.). Kritische Regionalwissenschaft. Gesellschaft, Politik, Raum. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2008

Philipp Ther, Holm Sundhaussen. Regionale Bewegungen und Regionalismen in europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Verlag Herder-Institut, Marburg 2003