Trotz der relativ kleinen Sprecherzahl von etwa 1,1 Millionen in und außerhalb Estlands, weist Estnisch (estn. eesti keel) eine lange Historie und interessante Sprachcharakteristika auf.
Es ist eine von 12 Sprachen des ostseefinnischen Zweiges der finno-ugrischen Sprachen, am engsten verwandt mit dem ausgestorbenen Livischen und Finnischen, aber auch entfernt mit Ungarisch. Als einzige Amtssprache Estlands gilt Estnisch seit dem EU-Beitritt 2004 auch als EU-Amtssprache, was der Sprecherzahl aber wenig nützt.
Wie die anderen Mitglieder der finno-ugrischen Sprachfamilie ist Estnisch eine flektierend-agglutinierende Sprache, was sich sprachhistorisch aber zu Gunsten der Flexion verschoben hat. Historisch beeinflusst wurde das Estnische stark vom Deutschen (Christianisierung durch den Deutschen Orden), Schwedischen (Zeit der Gegenreformation) und Russischen (Zugehörigkeit zum Russischen Reich und als Teil der Sowjetunion). Nach der Unabhängigkeit Anfang der 90er Jahre forcierte die estnische Regierung den flächendeckenden Ausbau des Estnischunterrichtes, Verwendung als Verwaltungssprache etc. Die im Land lebenden Minderheiten, vor allem ethnische Russen, müssen Estnischkenntnisse nachweisen, um entweder die Staatsbürgerschaft zu erhalten oder im Staatsdienst (weiter-)arbeiten zu können. Man kann sich gut vorstellen, dass diese sprachlichen Voraussetzungen bei den nationalen Minderheiten Ärger hervorrufen. Seit der Einführung dieser Regulierungen sind durch konsequenten Estnischunterricht in allen Schulen und ein gutes Kursangebot im Erwachsenenbereich deutliche Fortschritte zu erkennen.
Anders als viele europäischen Sprachen gibt es in Estnischen, im Verhältnis zur Sprecherzahl, massenhaft Mundarten innerhalb der Dialekte, was vor allem auf die Gesellschaftsstrukturen der letzten 250 Jahre zurückzuführen ist. Die Landbevölkerung war größtenteils an ihre Gemeinden gebunden, durch Leibeigenschaft und Frondienst. Daher waren ganze Bevölkerungsgruppen räumlich isoliert, was die Herausbildung von Dialekten begünstigt. Die heutige Standardsprache orientiert sich dabei an den Dialekten des Nordens, aber im Allgemeinen gleichen sich alle Dialekte mit der Zeit an.
Im Norden | West-Dialekt Zentral-Dialekt Ost-Dialekt |
Im Süden | Mulk-Dialekt Tartu-Dialekt Võru-Dialekt Seto-Dialekt |
Nicht klassifiziert | Nordostküsten-Dialekt Insel-Dialekt |
Die Sprachstruktur des Estnischen unterscheidet sich deutlich von den Sprachen ihrer Nachbarstaaten wie Russland oder Lettland, was auf die unterschiedlichen Sprachzweige zurückzuführen ist und ein möglicher Grund dafür ist, dass viele ethnische Russen in Estland die Sprachprüfungen nicht zufriedenstellend absolvieren.
Estnisch wird in lateinischer Schrift geschrieben, dabei unterscheiden sich vom deutschen Alphabet nur die Buchstaben <š>, <ž> und <õ>. Das Vokalsystem ist, für deutsche Verhältnisse, reichhaltiger und regelintensiv. Alle Vokale (a, e, i, o, u, ü, ä, ö und õ) haben drei verschiedene Längen (kurz-lang-überlang), die distinktiv, d.h. bedeutungsunterscheidend, sind. Außerdem sind auch die Merkmale ‚Lippen gerundet-ungerundet‘ und ‚Zunge vorne-hinten‘ wichtig. Je nach Definition zählt das Estnische mindestens 20 oder mehr als 30 Diphthonge!
Das Konsonantensystem ist nicht übersichtlicher. Zwar gibt es nur 17 Konsonantenphoneme, die aber wie die Vokale über drei distinktive Längenstufen verfügen. Anders als im Deutschen werden die Plosive nicht behaucht.
Der Wortakzent estnischer Wörter liegt generell auf der ersten Silbe, bei Fremdwörtern bleibt der ursprüngliche Akzent meist erhalten. Da es im Estnischen, ähnlich wie im Deutschen, zahlreiche lange Wörter (meist Komposita) gibt, liegt der Nebenakzent auf einer der weiteren ungraden Silben.
Allgemein gibt es keine grammatischen Geschlechter, viele Personenbezeichnungen gelten sowohl für männlich und weiblich. Zusätzlich kennt das Estnische keine Artikel, weder bestimmt noch unbestimmt. Die zugrundeliegende Wortstellung ist SVO, wobei zwischen normalen Aussagesätzen und inversen Sätzen unterschieden werden muss. Die Variante OVS ist seltener, aber grammatisch korrekt. In Nebensätzen findet man, wie im Deutschen, das Verb an finaler Position. Ein interessanter Punkt ist die Verwendung von Partikelverben, die laut Wissenschaftlern eine deutsche Entlehnung darstellen. Die 14 Kasus machen auf Deutschsprechende schon ziemlich Eindruck, die Hälfte davon sind Lokalkasus.
Die Lexik des Estnischen ist durch die historischen Einflüsse, z.B. des Deutschen Ordens, mit mehreren tausend Entlehnungen durchsetzt. Diese stammen aus dem Nieder- und Hochdeutschen z.B. ‚müts‘ – ‚Mütze‘ oder ‚vürts‘ – ‚Gewürz‘. Heute findet man, wie überall, auch Entlehnungen aus dem Englischen. Die aus dem Russischen stammende Wörter werden auf etwa 300 geschätzt und wurden an die estnische Phonologie angepasst.
Quellen
Winkler, Eberhard. Estnisch. In: Miloš Okuka (Hg.): Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Wieser, Klagenfurt 2002.
Laanest, Arvo. Einführung in die ostseefinnischen Sprachen. Buske-Verlag, Hamburg 1975