Warschau, die Hauptstadt Polens, liegt an der Weichsel (poln. Wisła), deren Lauf sich bis zur Ostsee fortsetzt. Damit eignete sie sich hervorragend als Wirtschaftsweg für allerlei Waren. Und es verwundert daher auch nicht, dass im Stadtwappen von Warschau ein Wasserwesen zu finden ist: Die Warschauer Seejungfer (poln. Warszawska Syrenka).
Sie ist nicht nur Teil des Wappens, sondern auch die Schutzpatronin der Stadt. Um ihre Herkunft und Bedeutung ranken sich zahlreiche Legenden. Die Anfänge Warschaus reichen bis ins 9. Jahrhundert zurück, die erste Erwähnung eines Stadtwappens mit der Seejungfer als Motiv im Jahr 1390. Jedoch sah sie damals einem Fischwesen noch nicht ähnlich, eher ein Drachenwesen mit Flügeln. Auf manchen Abbildungen erscheint die Figur als Mann mit nacktem Oberkörper, doch etwa 150 Jahre später bekommt sie ihren Fischschwanz und eindeutig weibliche Merkmale, die sich über die Jahrhunderte nur noch unwesentlich verändern. Als Schutzpatronin ist sie mit Schild und Schwert ausgestattet. Wenn man in Warschau unterwegs ist, kann man mehrere Statuen sehen u.a. eine von Konstanty Hegel geschaffene auf dem Altstadt-Marktplatz von 1855, eine am Markiewicz-Viadukt (siehe Bild oben) von 1905 und eine von 1939, die am linken Weichselufer steht. An der Zahl kann man gut erkennen wie wichtig den Warschauer*innen ihre Syrena ist.
Verschiedene Legenden sind überliefert, wie die Warschauer Seejungfer nach Warschau gekommen ist, so ganz sicher kann man nie sein. Eine Legende besagt, dass Fischer sie im Fluss gefangen haben und mit in die Siedlung nahmen. Aber durch den Gesang konnte die Seejungfer die Menschen überzeugen sie wieder freizulassen. Da drängt sich schnell der Vergleich mit der Loreley oder den Sirenen der griechischen Mythologie auf, die ebenfalls wunderschön singen können. Eine andere Legende berichtet, dass es zwei Seejungferschwestern gab, die im Meer lebten. Eine blieb in der Ostsee bzw. auf einem Felsen in Kopenhagen, die zweite schwamm in die Weichselmündung hinein und bis zur Siedlung des heutigen Warschaus. Sie wollte sich dort ausruhen, fand aber Gefallen an dem Ort, blieb und wurde Stadtpatronin.
Solche Mischwesen, wie die Sirene oder Seejungfer, sind in fast allen Kulturen bekannt. Je nach Ursprung werden ihr gute oder böse Eigenschaften bzw. magische Kräfte zugesprochen, von denen sich die Menschen mitunter Hilfe versprechen. Die häufige Darstellung in Wappen o.ä. zeigt die Faszination für Fabelwesen, vor allem für weibliche. Ein männliches Gegenstück zur Seejungfer ist der Wassermann, der in zahllosen Geschichten auftritt.
Meer- oder Seejungfrauen wirken oft hilfsbedürftig oder sind mit einem Bann belegt, den nur ein tapferer Mann lösen kann, die sogenannte Erlösungsbedürftigkeit. Sirenen dagegen werden als eher böse und listig beschrieben, die Seeleute oder Fischer in den Tod schicken, in dem sie z.B. singen oder andere Versprechungen machen, siehe Loreley oder die Sirenen bei Odysseus. Im osteuropäischen Raum kennt man auch die Rusalky, die Schiffe oder Brücken zerstören und die Vily, die gut oder böse sein können.
Ob zu Ehren der Warszawska Syrenka oder der Schönheit des Namens wegen, wer weiß, haben die Polen ein Auto „Syrena“ genannt, dass in Warschau gefertigt wurde.
Quellen
Hinz, Berthold. Sirenen. In: Maria Moog-Grünewald (Hrsg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Metzler, Stuttgart/Weimar 2008
Warschauer Seejungfer | Stadtführer Warschau (stadtfuehrer-warschau.com)
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