Sprache ist allen Menschen zueigen, egal woher sie stammen. Treffen sich Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, aber ein gemeinsames Ziel oder Anliegen haben, entwickeln sie oft kreative Lösungen sich zu verständigen. Eine dieser Lösungen ist eine Pidginsprache, die zum Ende des 18. Jahrhunderts im Grenzgebiet zwischen Norwegen und Russland entwickelte: Russenorsk (dt. Russennorwegisch).
Eine Pidginsprache ist eine Mischsprache, (meist) aus zwei Sprachen unterschiedlicher Sprachfamilien. Die Notwendigkeit zur Kommunikation der Sprecher:innen ergibt eine reduzierte Sprache, mit angepasster Lexik und sehr vereinfachter Grammatik. Genaueres zur Entstehung und Systematik von Pidginsprachen findet ihr im Artikel Pidgin und Kreol – Sprachen oder Kopien?.
Der Handel zwischen Norwegen und Russland im arktischen Gebiet, rund um Spitzbergen, der Halbinsel Kola und der Finnmark (siehe Bild) machte eine Verständigung nötig, doch keine der beiden Seite lernte die Sprache der anderen vollständig.
In dem vegetationsarmen und schwer zugänglichen Gebiet entstand ein reger Handel mit Fisch und landwirtschaftlichen Produkten, vor allem in den Sommermonaten. Ab 1782 war durch ein Abkommen zwischen Norwegen und Russland sogar der zollfreie Handel zwischen den Ländern möglich, der zur schnellen Entstehung des Russenorsk führte. Schon drei Jahre später tauchten in Protokollen die ersten Wörter dieser Pidginsprache auf. Sie verbreitete sich mit der Errichtung von Handelsstützpunkten immer weiter.
Mit der Revolution 1917 in Russland und der Verschlechterung der Beziehungen riss der Handel ab, was eine Benutzung des Russenorsks überflüssig machte. Die wenigen Zeugnisse aus dieser Zeit geben Einblicke in die Struktur und den Wortschatz des Pidgins.
Anders als z.B. das englisch dominierte Pidgin Tok Pisin, weist Russenorsk gleiche Anteile von Norwegisch und Russisch auf. Man kann davon ausgehen, dass die Gleichwertigkeit der Handelspartner ein Grund dafür ist.
Neben dem verwendeten Wortschatz aus dem Norwegischen und Russischen, hat Russennorsk auch kleinere Einflüsse aus dem Samischen (das die Samen auch auf diesem Gebiet leben), Deutschen, Englischen und Niederländischen, was durch andere Handelskontakte und die verschiedenen Nationalitäten der Schiffsbesatzung zustande kam. Welche Seite welche anderssprachigen Einflüsse eingebracht hat, lässt sich nicht genau sagen. In den schriftlichen Quellen ist vor allem Lexik (ca. 200 Wörter) für Werkzeuge, Waren und einige Sätze erhalten.
Die Aussprache des Russenorsks musste sich an die Muttersprache der Sprecher:innen anpassen. Das fehlende /h/ wurde so kurzerhand zu /g/ (hav → gav – „Meer“), das /x/ zu /k/ (xorošo → korošo –„gut“) und die Konsonantenhäufungen mit Vokalen gespickt (mnogo li → zu nogoli -„viele“). Fehlende bzw. nichtnotwendige Wörter werden oft umschrieben, z.B. paa kjerka vaskom – auf Kirche waschen, bedeutet ‚taufen‘.
Die Morphologie ist auf ein Minimum reduziert: es gibt keine Pluralform, keine Tempora und die Verbflexion wird durch das Voranstellen eines Personalpronomens vereinfacht.
Wie bei anderen Pidgins ist auch die Syntax reduziert. Da beide Sprachen eine SVO-Wortfolge (Subjekt-Prädikat-Objekt) haben, wurde diese beibehalten, die aber z.B. in Fragen durch SOV erweitert wurde. Verben wie Kopulaverben und Präpositionen fehlen weitgehend, es sei denn sie existieren in beiden Sprachen wie die Präposition ‚po‘.
Die Forschung kann leider nicht mehr auf Sprecher:innen des Russennorsk zurückgreifen, Tonaufnahmen wurden nicht gemacht, das Interesse war damals einfach nicht vorhanden. Das Spannende an dieser Pidginsprache ist vor allem die Fähigkeit der Menschen ihren Willen nach Verständigung auch unter widrigen Umständen zu ermöglichen.
Quellen
Neumann, Günter. Russennorwegisch und Pidginenglisch. Beobachtungen zum Bau von Behelfssprachen. In: Nachrichten der Giessener Hochschulgesellschaft. Band 34, 1965
Hirnsperger, Markus. „Pidgin-Russisch“ – Am Beispiel von „Russenorsk“ Onlinezugriff: http://www.sub-arctic.ac.at/?s=russenorsk&op.x=-1245&op.y=-756