Wenn Sprachen sterben, gehen nicht nur die Sprache selbst, sondern auch Kulturgut verloren. Für das Gotische existieren nur wenige aussagekräftige Dokumente, mit denen sich die Sprache gut rekonstruieren lässt. Eine der wichtigsten Quellen ist die Wulfila-Bibel.
Entstanden ist die Wulfila-Bibel etwa um 350. Wie viele Menschen außer dem Bischof noch an der Übersetzung gearbeitet haben, ist unklar. Geschrieben ist die Bibel in einer eigens für das Gotische entwickelten Schrift, der gotischen Schrift. Bis dato schrieben die Goten mit germanischen Runen, die aber nicht zum christlichen Inhalt des Textes passten. Das Griechische als eine der wichtigsten liturgischen Schriften war das Vorbild, das Wulfila nutzte.
Diese Bibel ist eine Übersetzung aus dem griechischen ins Gotische. Als Übersetzer wird der Namensgeber der Bibel Missionar und Bischof Wulfila (311 – 383 n.Chr.) angenommen, der wahrscheinlich erste Bischof der Terwingen, einem ostgermanischen-gotischen Stamm. Die Goten waren bis zu Wulfilas Zeit keine Christen, erst ab ca. 376 sind sie konvertiert.
Heute existieren nur noch wenige Abschriften von Teilen der Bibel. Die meisten stammen aus späteren Jahrhunderten. Das bekannteste ist der Codex Argenteus (dt. silbernes Buch), der sich in Schweden befindet und wahrscheinlich eine Abschrift der Bibel für Theodrich den Großen, König der Ostgoten, ist. Der Text wurde mit silberner Tinte geschrieben und reich verziert.
Neben der großen Bedeutung für die Theologie- und Geschichtswissenschaften, ist die Wulfila-Bibel eine unverzichtbare Quelle für die Sprachwissenschaft. Obwohl das Krimgotische auf der Krim noch bis ins 18.Jahrhundert gesprochen wurde (Gotisch und Krimgotisch sind entfernt verwandt), weiß die Wissenschaft nur wenig über die Sprachstufe aus dem Frühmittelalter. Die Bibel ist das längste Schriftdokument, über das die Forscher verfügen.
Die Sprache der Bibel ist keine Alltagssprache, bietet aber trotzdem Einblicke in die Grammatik und Satzstellung des Gotischen. Außerdem kann man Einflüsse anderer Sprachen erkennen, die nicht nur auf historischen, sondern auch religiösen Gründen bestehen. Wulfila hat bei seiner Übersetzung wahrscheinlich nicht darauf geachtet besonders volkssprachlich zu schreiben, schließlich übersetzte er religiöse Texte. Fehlenden Wortschatz ersetzte Wulfila mit Entlehnungen aus dem Lateinischen und Griechischen. Auch der Satzbau erinnert stark an das Griechische, sodass unklar ist welchen Satzbau das Gotische normalerweise verwendete.
Auch die christliche Richtung der Arianer, der Wulfila und die Goten angehörten, spielt in der Übersetzung eine Rolle, d.h. bestimmte Bibelstellen werden inhaltlich anders übersetzt als im griechischen Ausgangstext.
Ende des 17. Jahrhunderts wurde die gotische Bibel sogar als gedrucktes Werk, jedoch eher zu Forschungszwecken, herausgegeben. Weitere Drucke, zur Erleichterung mit lateinischer und griechischer Übersetzung, erschienen in mehreren Ausgaben. Das zeigt wie hoch das Interesse von Theologen und Sprachwissenschaftlern an der ausgestorbenen Sprache war und bis heute ist.
Quellen
Streitberg, Wilhelm Streitberg. Die Gotische Bibel. Der gotische Text und seine griechische Vorlage. Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 2000
Falluomini, Carla. Textkritische Anmerkungen zur Gotischen Bibel. „AnnalSS”. 5, 2005