Die Geschichte der Gebärdensprachen

Bei dem Begriff ‚Sprache‘ denken wir sofort an Lautsprache. Doch Menschen können auf vielfältige Weise kommunizieren außer mit ihrer Stimme, z.B. mit ihren Händen. Und das ist keine Seltenheit. Weltweit gibt es über 200 Gebärdensprachen!

Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen mit eigener Grammatik und Wortschatz. Sie unterscheiden sich in ihrer Komplexität nicht von den Lautsprachen, die wir als selbstverständlich ansehen. Und genau wie andere natürliche Sprachen entwickeln sie sich stetig weiter.

Dass Gebärdensprachen entstanden sind, ist nicht verwunderlich. Schon immer haben sich Menschen auch durch Gebärden bzw. Gesten verständigt, wenn die Situation es erforderte. Doch wie die ersten Gebärdensprachen entstanden sind, ist unklar. Sicher ist aber, dass schon in der Antike von Menschen berichtet wurde, die sich mit Gebärden verständigt haben, auch wenn es von den Zeitgenossen oft als minderwertige Kommunikationsform abgetan wurde.

Taubheit bzw. Schwerhörigkeit galt lange Zeit als eine Strafe Gottes und daher wurde auf Bildung der Menschen oder eine eigene Gebärdensprache kaum Wert gelegt. Im Mittelalter kamen bei den europäischen Mönchen trotzdem eine Art Gebärdensprache auf, denn sie das Schweigegelübde vieler Mönche erforderte dies. Nicht nur Gebärden, auch Fingeralphabete entstanden in den Klöstern. Auch an Herrscherhöfen kannte man ähnliche Systeme, damit die Kommunikation zwischen dem Personal lautlos verlief. Doch das waren trotz allem noch keine Sprachen wie wir sie heute kennen.

Auf ihren Eroberungs- und Entdeckerreisen trafen die Europäer auf viele Indigene im Amerika, die eine Gebärdensprache verwendeten, unabhängig von Hörversmögen.

Im späten Mittelalter entwickelte sich eine humanistische Sicht auf die Bildung von tauben oder schwerhörigen Personen, ähnlich wie bei Blinden. Das galt vorerst nur für Menschen aus den höheren Schichten, setzte sich aber bald für alle durch. Die Lehrmethoden unterschieden sich stark von den heutigen und setzten viel auf Schreiben und das Fingeralphabet.

In Nordamerika entwickelte sich der Vorläufer der American Sign Language ab dem Ende des 17. Jahrhunderts, weil viele Gehörlose in Gemeinschaften wie auf Martha’s Vineyard zusammenlebten. Sie brauchten eine gemeinsame Sprache, unabhängig von ihrer Herkunft.

In Europa wurden Schulen für Kinder gegründet, die sich aber zu großen Teilen versuchten den Kindern die Lautsprache beizubringen. Gebärdensprache zu unterrichteten, war eher ungewöhnlich. Die ersten Versuche fanden in Frankreich statt. Das erklärt die Verwandtschaft vieler europäischer Gebärdensprachen mit der französischen.

Gebärdensprachen als eigene Sprachsysteme entstanden im 19. Jahrhundert. Es gab immer noch kein einheitliches Lehrprogramm, die Kinder nutzten aber schon ihre eigenen Gebärden, auch wenn das noch teilweise verboten war. Gegner der Gebärdensprachen versuchten mit allen Mittel den Gebrauch zu verbieten und die Menschen weiterhin zum lautlichen Sprechen zu bringen. Bis heute sehen viele Gebärdensprachen als minderwertig an.

In Deutschland wurde die deutsche Gebärdensprache zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannter. Es entstanden mehr Schulen, die sich zwar noch mit Lautsprache arbeiteten, sich aber um die Bildung Gehörloser kümmerten und auch die deutsche Gebärdensprache nutzten.

In der Zeit des Dritten Reiches wurden Gehörlose als minderwertig eingestuft, zwangssterilisiert oder ermordet. Nach dem Krieg gründete sich der Deutsche Gehörlosenbund und auch weltweit organisierten sich immer mehr Menschen, was 1951 zur Gründung der Weltverbandes der Gehörlosen in Rom führte.

Heute gibt es viel Forschung zur Struktur der Gebärdensprachen, zahlreiche Studiengänge, Dolmetscherlehrgänge usw. Die Gebärdensprachen unterscheiden sich wie Lautsprachen auch voneinander. Nicht nur die Hände, sondern auch ihre Position im Raum, die Mimik, Lippenbewegung und viele weitere Faktoren lassen ein komplexes Sprachsystem entstehen. Selbst Dialekte innerhalb einer Sprache sind keine Seltenheit und zeugen von der Individualität der Sprechergemeinschaften.

In vielen Ländern ist die jeweilige Gebärdensprache als Amts- oder Minderheitensprache anerkannt, was ihren Status als eigenständige Sprache unterstreicht. Gebärdensprachen sind Teil der persönlichen Identität und gehören zur Teilhabe am öffentlichen Leben einfach dazu.

Quellen

Ashraf, Mohammed. Gebärdensprache als natürlich entstandene Sprache. Beni-Suef University International Journal of Humanities and Social Sciences 2020

Sacks, Oliver. Stumme Stimmen. Reise in die Welt der Gehörlosen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2001

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