Lagerszpracha- eine Pidginsprache aus der Hölle

Jeder Mensch braucht Sprache. Sprache ist Kultur und Identität. Was passiert, wenn man Menschen ihre Sprache einfach wegnimmt? Man beraubt sie damit nicht nur ihres Kommunikationsmittels, sondern auch ihrer Identität. Doch Menschen schaffen es auch unter schwierigsten Bedingungen die Kommunikation aufrecht zu halten. Sie ist für sie lebensnotwendig.

In den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten war Deutsch die einzig (offiziell) akzeptierte Sprache. Die Befehle, die Beschimpfungen, die Meldungen in den Baracken wurden nur auf Deutsch gebrüllt, ja gebrüllt. Sprach ein Häftling nicht deutsch bzw. verstand die auf Deutsch gegebenen Befehle nicht, konnte das schwere Strafen oder den Tod nach sich ziehen. Also waren die Häftlinge gezwungen sich schnell wenigstens die einfachen Befehle und Redewendungen der Aufseher zu merken und wiedergeben zu können. Auch ihre Häftlingsnummer mussten sie klar und deutlich auf Deutsch sagen können. Um die Post besser kontrollieren zu können, musste sämtlicher Schriftverkehr der Häftlinge in deutscher Sprache geschrieben werden.

Die mündliche Kommunikation der Wächter mit den Häftlingen zeigt aus soziolinguistischer Sicht einen bestimmten Jargon. Der Großteil der Sprache waren Schimpfwörter, Beleidigungen, die den Befehlen beigefügt wurden. Selbst die Häftlinge, die Deutsch verstanden oder sprachen, kannten diese Art von Vulgarismen wahrscheinlich kaum. Und doch prägten sie die alltägliche Kommunikation mit den Peinigern.

Doch die KZ-Häftlinge in Auschwitz kamen aber aus den unterschiedlichsten Ländern oder Regionen, jeder brachte seine eigene Sprache mit. Das führte natürlich auch unter den Häftlingen zu Problemen, sie konnten sich kaum miteinander verständigen, doch sehr schnell entwickelte sich eine multinationale Sprachmischung, die stetig erweitert wurde: Die lagerszpracha (vorgeschlagen vom deutschen Wissenschaftler Wolf Oschlies).

Aus wissenschaftlicher Sicht kann man von einer Pidginsprache sprechen. Die lagerszpracha entstand aus der Notwendigkeit, dass sich Sprecher verschiedener Sprachen im Alltag (nicht mit den deutschsprachigen Wächtern, denn da mussten sie Deutsch sprechen) irgendwie organisieren mussten. Wie eine klassische Pidginsprache nutzte die lagerszpracha nur einen begrenzten Wortschatz, der zu großen Teilen aus dem lagerspezifischen Deutsch bestand, und typisch polnische Grammatikmerkmale aufweist (die Polen bzw. polnischen Juden waren die größte Gruppe in den KZs), aber auch viele Ausdrücke aus den Sprachen der anderen Sprachen der Häftlinge.

Die lagerszpracha baute auf den im Lager üblichen Funktionsbegriffe wie den Befehlen, dem Tagesablauf (z.B. apely – dt. Appelle) oder den Gebäuden auf. Einige schriftliche Zeugnisse sind, dank dem Einsatz mutiger Häftlinge, in Fragmenten auch schriftlich erhalten. Die meisten Daten stammen aber von Überlebenden, die trotz ihrer Traumata bereit waren, darüber zu sprechen.

Die lexikalischen Eigenheiten der lagerspzracha lassen sich systematisch in Gruppen zusammenfassen:

  • Übernahme der deutschen Wörter z.B. Gebäudebezeichnungen oder Objekte, die nicht flektiert wurden, aber oft eine Genuswechsel durchmachten (in Abhängigkeit des Genus im Slawischen)
  • Entlehnungen, die an sie polnische Schreibweise und Deklination angepasst wurden z.B. culaga (dt. Essenszulage), durchfalowy (dt. Durchfall, hier in Adjektivischer Form gebraucht) oder sortirunek (dt. Sortierung bzw. Selektion)
  • Semantische Entlehnungen zur Bezeichnung KZ-spezifischer Begriffe z.B. brytfanka (dt. Bratpfanne, Bezeichnung für ein Werkzeug aus Metall zum Schieben der Leichen im Krematorium)

Auch auf den anderen linguistischen Ebenen sieht man typische Pidginelemente. Verben wurden systematisch mit bedeutungstragenden Prä- und Suffixen versehen (im Slawischen sehr produktiv, aber auch aus dem Deutschen bekannt), viele Genuswechsel und angepasste Pluralendungen sind von den deutschen Ursprungswörtern ins polnische System übernommen, Intonation und Betonungsmuster passten sich an den jeweiligen Sprecher an und noch vieles mehr.

Auch Lexik aus anderen Sprachen, oft abhängig von der Anzahl der Häftlinge mit dieser Sprache als Muttersprache, fand Eingang in die lagerszpracha, blieben aber die Ausnahmen. Die Sprache lebte ja auch von den Menschen, die sie verwendeten, und die meisten Neuzugänge überlebten die ersten Wochen bekanntlich nicht.

Die Erforschung dieses Phänomens der lagerszpracha, in manchen Quellen auch Lageresperanto genannt, war lange Zeit nur eingeschränkt möglich und stieß vielerorts kaum auf Interesse. Nach dem Krieg waren die ehemaligen Insassen zu stark traumatisiert, um sie zu befragen, andere wollten dieses Kapitel, verständlicherweise, einfach nur hinter sich lassen.

Quellen

Oschlies, Wolf: „Lagerszpracha“ – Zu Theorie und Empirie einer KZ-spezifischen Soziolinguistik, in: Zeitgeschichte (Wien) Nr. 1/1985, S. 1-27

Wesołowska, Danuta. Wörter aus der Hölle: die „lagerszpracha“ der Häftlinge von Auschwitz. Impuls Verlag, Kraków 1998

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