Dass in Deutschland nicht nur Deutsch gesprochen wird, ist sicherlich allen klar. Neben Sprachen mit großen Sprecherzahlen, z.B. Polnisch oder Türkisch, sind in Deutschland mehrere Sprachen als Regional- und Minderheitensprachen anerkannt. Eine davon, anerkannt als Regionalsprache, ist Niederdeutsch.
Niederdeutsch wird auch Plattdeutsch (in den Varietäten auch Plattdütsch, Plattduitsk, in den USA Plautdietsch) genannt und hat, je nach Zählweise, bis zu 8 Millionen Sprecher*innen. Das hört sich viel an, hängt aber von den Kenntnissen ab und verteilt sich aber über den ganzen Globus. In Deutschland sprechen es schätzungsweise 5-6 Millionen Menschen, etwa 2 Millionen in den Niederlanden und eine halbe Million in Übersee v.a. in Brasilien.
Der Name Niederdeutsch wird als geografische Bezeichnung verstanden, da die Sprache in den niedrig liegenden Regionen, d.h. vor allem im Norden Deutschlands, gesprochen wird. Anders als die bundesdeutsche Standardsprache kennt das Niederdeutsche keine genormte Schriftsprache, weil sich das Verbreitungsgebiet wie ein breiter Sprachgürtel quer durch Norddeutschland und die Niederlande spannt und sich unzählige Dialektvarietäten entwickelt haben. Heute unterscheidet man zwei große Gruppen: Westniederdeutsch und Ostniederdeutsch, die sich beide in mehrere kleineren Gruppen verzweigen.
So lange wie es das Deutsche in seinen Formen und Ausprägungen gibt, so lange entwickelt sich das Niederdeutsche. Durch Sprachwandel und Sprachgrenzen entwickelte sich das Niederdeutsche anders als das Oberdeutsche und wird heute nicht automatisch von allen Deutschsprechenden verstanden. Die Besiedlung der Nordseeküstenregion durch die Sachsen zur Zeit der Völkerwanderung markiert, vorsichtig formuliert, den Beginn des Niederdeutschen. Im Laufe der nächsten Jahrhunderte breitet es sich über die heutigen Niederlande, England und ab dem 12. Jahrhundert durch die Ostkolonisation auch in Richtung Osten bis ins Baltikum aus. Die großflächige Ausbreitung und die Einflüsse anderer Sprechergemeinschaften erklärt den Variantenreichtum des Niederdeutschen.
Zwischen dem 13. und dem 17. Jahrhundert war Niederdeutsch die Verkehrssprache der Hanse, was sich in zahllosen Dokumenten zeigt. Auch religiöse Texte und Bibelübersetzungen waren in dieser Zeit sehr gefragt.
Das beginnende Ende der Hanse und die Reformation sorgten für den Rückgang des Niederdeutschen zugunsten des Hochdeutschen. Das Niederdeutsche zog sich in den Privat- und Familienbereich zurück. Vor allem die Schriftsprache wurde immer weniger verwendet, besonders im Bildungssystem zu beobachten. Die Kinder erlernten in der Schule Hochdeutsch in Wort und Schrift, sprachen aber zu Hause Niederdeutsch. Innerhalb der Kirche verwendeten immer mehr Gemeinden Hochdeutsch, obwohl die einfachen Leute das Hochdeutsche oft nicht gut verstanden. Niederdeutsch galt als Sprache der ungebildeten Leute und der Frauen, weil die Männer durch ihre Berufstätigkeit meist besser Hochdeutsch sprachen
Nach dem Wiener Kongress 1815 verschärfte sich die Sprachpolitik in Preußen, das durch die Neuordnung große Teile des niederdeutschen Sprachgebietes zugesprochen bekam. Als alleinige Sprache wurde nur noch Hochdeutsch als Amts- und Verkehrssprache genutzt. Die diskriminierende Sprachpolitik hielt bis weit ins 20. Jahrhundert an. Auch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung als Folge des Zweiten Weltkrieges führte zu einer Verkleinerung des Sprachgebietes, im Osten heute durch die Grenze zu Polen festgelegt. Im Westen, an der niederländischen Grenze, blieb das Dialektkontinuum erhalten. Inwiefern Niederdeutsch und Niederländisch als zwei ähnliche Varietäten oder eigene Sprachen gesehen werden, darüber gibt es heftige Diskussionen.
Niederdeutsch unterschiedet sich vom Standardhochdeutschen in vielerlei Hinsicht. Besonders hervorzuheben sind die zahlreichen Lautwandelprozesse z.B. die zweite germanische Lautverschiebung, die das Niederdeutsche ebenso wie das Niederländische und Friesische nicht durchgemacht haben. Andere Lautunterschiede zeigen sich u.a. in den Frikativen (Reibelaut) z.B. ‚slapen‘ statt ‚schlafen‘. Auch die Grammatik unterscheidet sich, je nach Dialektvarietät, z.B. die doppelte Verneinung oder die häufige Verwendung des Verbes ‚tun‘.
Das Niederdeutsche verfügt heute über keine einheitliche Schriftsprache, was besonders den Erwerb der Sprache in den schriftlichen Kompetenzen erschwert.
Der Schutz des Niederdeutschen durch die Sprachencharta und das dadurch gestiegene Sprachprestige gewinnt die Sprache an Sprecher*innen. Die technischen Mittel zur Umsetzung im Internet und die wachsende Präsenz in den Medien lassen Niederdeutsch als wertvollen Teil der deutschen Sprachlandschaft wieder zurückgewinnen.
Quellen
Lindow, Wolfgang. Niederdeutsche Grammatik (= Schriften des Instituts für Niederdeutsche Sprache. Reihe Dokumentation 20). Verlag Schuster, Leer 1998
Stellmacher, Dieter. Niederdeutsche Sprache. Weidler, Berlin 2000