Radegast

Der slawische Gott Radegast hat viele Namen, je nachdem wo man sich befindet: Svarožić oder Dažbog im ost- und südslawischen Raum, bei den Elb- und Ostseeslawen Radegast, Radogast oder Redigast.

Die Herkunft des Namens Svarožić wird meist als ‚Sohn des Svarog‘ umschrieben, eine mögliche Verwandtschaft mit dem indoeuropäischen Wort swar mit der Bedeutung ‚Sonne‘ oder ‚Schein‘ passt zu seiner Funktion als Sonnengott. Der von den Elb- und Ostseeslawen verwendete Name ‚Radegast‘ stammt am ehesten von der Siedlung ‚Radegast‘ der Redaren, ist also keine Abwandlung von Svarožić. Seine Funktion wandelte sich im Laufe der Zeit; zuerst als Gott des Feuers und des Lichtes angebetet, verehrten die Elb- und Ostseeslawen Radegast eher als Kriegsgott, meist mit Schild und Lanze bewaffnet dargestellt.

Im 11. Jahrhundert wird ein Tempel, der dem Gott Radegast geweiht sein soll, von den Chronisten Adam von Bremen und Thietmar von Merseburg erwähnt. Dieser Tempel lag wohl auf einer Insel, die durch eine Brücke mit dem Festland verbunden war und von den dort lebenden Menschen auch für andere Gottheiten genutzt wurde. Als Holzbau mit Tierhörnern verziert, beherbergte der Tempel zahlreiche Skulpturen slawischer Götter. Die Slawen brachten den Göttern Opfer wie Lebensmittel, Tiere etc., manche Quellen sprechen auch von Menschenopfern. Zwei wichtige Attribute des Kriegsgottes sind das Pferd und der Eber, ersteres als Zugtier des Sonnenwagens und Orakeltier für Kriegsfragen, letzteres ebenfalls als Orakeltier.

Die Verehrung von Tieren und Himmelskörpern wie der Sonne ist elementar in der slawischen Mythologie. Die Menschen waren abhängig vom Kreislauf der Natur, Opfer zu Ehren der vielen Götter eine normale Sache. Die Verehrung der Sonne und des Feuers auf Erden, dessen Beherrschung das Überleben sicherte, galt als zentrales Ritual.

Schlechte Ernten aufgrund des Wetters wurde meist auf den Zorn der Götter zurückgeführt. Kriegerische Auseinandersetzungen wurden nach Befragung des Orakels begonnen. Eine typische Methode war das Führen eines Pferdes über zwei gekreuzte Lanzen durch einen Priester. Je nachdem mit welchem Bein das Pferd zuerst über das Kreuz stieg, sagte es Erfolg oder Misserfolg des Krieges voraus. Die Wahl der Lanzen bezeugt den Einfluss des Kriegsgottes Radegast.

Es ist nicht geklärt, ob es außer dem Tempel in Radegast noch andere gab. Die slawischen Stämme lebten eher verstreut, daher liegt die Vermutung nahe. Sicher ist, dass auf Rügen ein weiteres religiöses Zentrum der Slawen war, am Kap Arkona. Heute ist die Tempelanlage verschwunden. Die Verehrung Radegast fand sicherlich auch dort statt, obwohl im Laufe der Zeit seine Dominanz abnahm und Svantovit, ein anderer Gott der Slawen, die Rolle des Kriegsgottes übernahm.

Ein weiteres Indiz für die Verehrung von Radegast über die nordostdeutsche Region hinaus, ist der Berg Radhošť in dem tschechischen Teil der Beskiden. Radhošť ist der tschechsiche Name für Radegast.

Schriftlichen Quellen aus der Zeit vor der Christianisierung der Slawen sind leider nicht vorhanden, so dass die allermeisten Beschreibungen von Gottheiten, Riten und der Lebensweise der Slawen von Chronisten mit christlicher Weltanschauung geschrieben wurden, was nicht immer zu 100% authentisch gewesen sein wird.

Mit der Christianisierung der Slawen ging der Einfluss der Gottheiten zurück, doch in jüngerer Zeit kehren immer mehr Menschen zu ihren Ursprüngen zurück und verehren die alten Götter, pflegen Traditionen und heidnische Feste.

Quellen

Zdeněk, Váňa. Mythologie und Götterwelt der slawischen Völker. Urachhaus, Stuttgart 1992

Grimal, Pierre (Hrgs.). Mythen der Völker 3. Fischer, Frankfurt am Main: Fischer 1967

Ferdinand de Saussure

Der Name Saussure begegnet jedem Linguistik-Studierenden im ersten Semester und begleitet durch das ganze Studium, ob man will oder nicht.

Der Schweizer Ferdinand de Saussure prägte die Linguistik wie kaum ein anderer. Am 26. November 1857 in Genf geboren, studierte er in Leipzig und Berlin Indogermanistik, promovierte und lehrte in Paris und bis zu seinem Tod in Genf. Seiner Familie entstammten viele angesehene Wissenschaftler und Künstler, der akademische Weg war demnach ein Muss für den jungen Mann. Nach seinem Studium heiratete er Marie Faesch, aus einer angesehenen Schweizer Familie, mit der er einen Sohn bekam, Raymond de Saussure, der später als Psychoanalytiker bekannt wurde. Ferdinand de Saussure starb am 22. Februar 1913 auf Schloss Vufflens in der Schweiz.

Saussures Studium sowie seine Lehrtätigkeit ließen zahlreiche Forschungsarbeiten entstehen, die sich im Kern mit vergleichender Linguistik und Rekonstruktion des Indogermanischen befassten.

Doch viel bekannter als die zu Lebzeiten erschienenen Arbeiten, sind die Theorien des Strukturalismus. Saussures Schüler Charles Bally und Albert Sechehaye veröffentlichten nach seinem Tod das Buch „Cours de linguistique générale“ (dt. „Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft“), in dem Saussures Theorie „Sprache als Zeichen“ dargestellt ist. Er durchleuchtet jeden Aspekt der Sprache, hinterfragt und gibt mögliche Antworten. Wer es schon mal gelesen hat, wird feststellen, dass es durchaus zu Diskussionen anregt und zusätzliche Fragen aufwirft.

Ein klassisches Modell zur Definition bzw. Frage „Was ist Sprache?“ von Saussure teilt sich in drei Aspekte:

Langage →die Fähigkeit des Menschen zu sprechen

Langue → Sprache als Einzelsprache mit grammatischen Regeln etc., die innerhalb einer Gruppe von Menschen vorherrscht

Parole → der Sprechakt mit seinen individuellen Komponenten, die Veränderungen der Langue einleiten kann

Diese drei Aspekt bedingen einander, ohne ihre Kombination wäre die Kommunikation durch Sprache nicht möglich. Damit ist Sprache ein von Menschen für Menschen gemachtes System, das nur durch sie lebendig gehalten und verändert wird. Die stark theoretischen Ausführungen können das Thema „Sprache“ sehr abstrakt erscheinen lassen, denn im Alltag denken wir selten darüber nach wann wir etwas wie sagen.

Die Veränderlichkeit von Sprache(n) ist für Saussure abhängig von den Sprecher*innen, die Veränderungen einfließen lassen, aber andererseits unterliegen Sprachen Gesetzen z.B. historische Lautwandel, die unbewusst gesehen.

Saussure sah die Sprachwissenschaft als interdisziplinäre Wissenschaft an. Nur mit Hilfe der Soziologie, Geschichte, Ethnologie u.v.a. waren seiner Meinung nach konkrete Aussagen und Beweisführungen möglich. Für unser heutiges Verständnis von Wissenschaft ist das selbstverständlich, aber zu Saussures Zeiten ein recht neuer Gedanke.

Seine Zeichenlehre (weiter Stichworte→ semiotisches Dreieck, Signifikat, Signifikant, Arbitrarität des Zeichens etc.) begründete innerhalb der Linguistik ein neues Forschungsfeld, die Semiotik. Saussures Ideen des Strukturalismus wurde von vielen Forscher wie Roman Jakobsen oder Nikolai Trubetzkoy genutzt und ausgebaut, griffen in der 1930er Jahren aber auch auf andere Wissenschaftszeige wie der Anthropologie und Literaturwissenschaft über. Bekannte Vertreter sind z.B. Levi-Strauss und Roland Barthes.

Das Werk Saussures wird in der Sprachwissenschaft als Grundlage für viele weitere Forschungen genutzt. Die Allgemeingültigkeit seiner Theorien überdauern bislang die Schnelllebigkeit der Wissenschaftslandschaft.

Quellen

Jäger, Ludwig. Ferdinand de Saussure zur Einführung. Junius, Hamburg 2010

Joseph, John. Saussure. Oxford University Press, Oxford 2012

Saussure, Ferdinand. Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. De Gruyter, Berlin 1967

Estnisch

Trotz der relativ kleinen Sprecherzahl von etwa 1,1 Millionen in und außerhalb Estlands, weist Estnisch (estn. eesti keel) eine lange Historie und interessante Sprachcharakteristika auf.

Es ist eine von 12 Sprachen des ostseefinnischen Zweiges der finno-ugrischen Sprachen, am engsten verwandt mit dem ausgestorbenen Livischen und Finnischen, aber auch entfernt mit Ungarisch. Als einzige Amtssprache Estlands gilt Estnisch seit dem EU-Beitritt 2004 auch als EU-Amtssprache, was der Sprecherzahl aber wenig nützt.

Wie die anderen Mitglieder der finno-ugrischen Sprachfamilie ist Estnisch eine flektierend-agglutinierende Sprache, was sich sprachhistorisch aber zu Gunsten der Flexion verschoben hat. Historisch beeinflusst wurde das Estnische stark vom Deutschen (Christianisierung durch den Deutschen Orden), Schwedischen (Zeit der Gegenreformation) und Russischen (Zugehörigkeit zum Russischen Reich und als Teil der Sowjetunion). Nach der Unabhängigkeit Anfang der 90er Jahre forcierte die estnische Regierung den flächendeckenden Ausbau des Estnischunterrichtes, Verwendung als Verwaltungssprache etc. Die im Land lebenden Minderheiten, vor allem ethnische Russen, müssen Estnischkenntnisse nachweisen, um entweder die Staatsbürgerschaft zu erhalten oder im Staatsdienst (weiter-)arbeiten zu können. Man kann sich gut vorstellen, dass diese sprachlichen Voraussetzungen bei den nationalen Minderheiten Ärger hervorrufen. Seit der Einführung dieser Regulierungen sind durch konsequenten Estnischunterricht in allen Schulen und ein gutes Kursangebot im Erwachsenenbereich deutliche Fortschritte zu erkennen.

Anders als viele europäischen Sprachen gibt es in Estnischen, im Verhältnis zur Sprecherzahl, massenhaft Mundarten innerhalb der Dialekte, was vor allem auf die Gesellschaftsstrukturen der letzten 250 Jahre zurückzuführen ist. Die Landbevölkerung war größtenteils an ihre Gemeinden gebunden, durch Leibeigenschaft und Frondienst. Daher waren ganze Bevölkerungsgruppen räumlich isoliert, was die Herausbildung von Dialekten begünstigt. Die heutige Standardsprache orientiert sich dabei an den Dialekten des Nordens, aber im Allgemeinen gleichen sich alle Dialekte mit der Zeit an.

Im NordenWest-Dialekt
Zentral-Dialekt
Ost-Dialekt
Im SüdenMulk-Dialekt
Tartu-Dialekt
Võru-Dialekt
Seto-Dialekt
 Nicht klassifiziertNordostküsten-Dialekt
Insel-Dialekt

Die Sprachstruktur des Estnischen unterscheidet sich deutlich von den Sprachen ihrer Nachbarstaaten wie Russland oder Lettland, was auf die unterschiedlichen Sprachzweige zurückzuführen ist und ein möglicher Grund dafür ist, dass viele ethnische Russen in Estland die Sprachprüfungen nicht zufriedenstellend absolvieren.

Estnisch wird in lateinischer Schrift geschrieben, dabei unterscheiden sich vom deutschen Alphabet nur die Buchstaben <š>, <ž> und <õ>. Das Vokalsystem ist, für deutsche Verhältnisse, reichhaltiger und regelintensiv. Alle Vokale (a, e, i, o, u, ü, ä, ö und õ) haben drei verschiedene Längen (kurz-lang-überlang), die distinktiv, d.h. bedeutungsunterscheidend, sind. Außerdem sind auch die Merkmale ‚Lippen gerundet-ungerundet‘ und ‚Zunge vorne-hinten‘ wichtig. Je nach Definition zählt das Estnische mindestens 20 oder mehr als 30 Diphthonge!

Das Konsonantensystem ist nicht übersichtlicher. Zwar gibt es nur 17 Konsonantenphoneme, die aber wie die Vokale über drei distinktive Längenstufen verfügen. Anders als im Deutschen werden die Plosive nicht behaucht.

Der Wortakzent estnischer Wörter liegt generell auf der ersten Silbe, bei Fremdwörtern bleibt der ursprüngliche Akzent meist erhalten. Da es im Estnischen, ähnlich wie im Deutschen, zahlreiche lange Wörter (meist Komposita) gibt, liegt der Nebenakzent auf einer der weiteren ungraden Silben.

Allgemein gibt es keine grammatischen Geschlechter, viele Personenbezeichnungen gelten sowohl für männlich und weiblich. Zusätzlich kennt das Estnische keine Artikel, weder bestimmt noch unbestimmt. Die zugrundeliegende Wortstellung ist SVO, wobei zwischen normalen Aussagesätzen und inversen Sätzen unterschieden werden muss. Die Variante OVS ist seltener, aber grammatisch korrekt. In Nebensätzen findet man, wie im Deutschen, das Verb an finaler Position. Ein interessanter Punkt ist die Verwendung von Partikelverben, die laut Wissenschaftlern eine deutsche Entlehnung darstellen. Die 14 Kasus machen auf Deutschsprechende schon ziemlich Eindruck, die Hälfte davon sind Lokalkasus.

Die Lexik des Estnischen ist durch die historischen Einflüsse, z.B. des Deutschen Ordens, mit mehreren tausend Entlehnungen durchsetzt. Diese stammen aus dem Nieder- und Hochdeutschen z.B. ‚müts‘ – ‚Mütze‘ oder ‚vürts‘ – ‚Gewürz‘. Heute findet man, wie überall, auch Entlehnungen aus dem Englischen. Die aus dem Russischen stammende Wörter werden auf etwa 300 geschätzt und wurden an die estnische Phonologie angepasst.

Quellen

Winkler, Eberhard. Estnisch. In: Miloš Okuka (Hg.): Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Wieser, Klagenfurt 2002.

Laanest, Arvo. Einführung in die ostseefinnischen Sprachen. Buske-Verlag, Hamburg 1975

Sütterlin

Heutzutage beherrschen nur noch ganz wenige eine 1911 in Preußen eingeführte Schreibschrift, die von Ludwig Sütterlin entwickelt wurde: Das Sütterlin oder die Sütterlinschrift.

Die Sütterlinschrift ist eine spezielle Schreibschrift, die als Vorstufe der Kurrentschrift klassifiziert ist. Da die Kurrentschrift für Schreibanfänger der damaligen Zeit schwer zu erlernen war, beauftragte das preußische Kultur- und Schulministerium Ludwig Sütterlin damit eine vereinfachte Ausgangsschrift zu entwickeln.

Strenger als in Europa üblich, war der preußische Staat darauf aus den Schrifterwerb und allgemein Schreibkompetenzen aller Schüler möglichst effizient zu gestalten. Dazu gehörte auch eine effiziente Schreibung, die nicht nur einfach zu lernen, sondern auch schnell und leserlich zu schreiben war. Das Schreiben mit einer Metallfeder erfordert einen gleichmäßigen Druck und eine gute Hand-Auge-Koordination. Die sonst übliche Kurrentschrift erschwerte dies, sodass Ludwig Sütterlin die Buchstaben vereinfachte, das Verhältnis anpasste und sie vertikaler ausrichtete.

Seit 1915 lernten Kinder in Preußen Sütterlin, jedoch stand diese Schrift in großer Konkurrenz zur lateinischen Ausgangsschrift, die in den meisten europäischen Ländern mit lateinischer Schrift vorherrschte. Man kann auch vermuten, dass Preußen mit einer anderen Schrift ein politisches Statement setzen wollte, obwohl die lateinische Ausgangsschrift im Handel etc. unverzichtbar war.

Nach der Einführung der Sütterlinschrift ging die Verwendung der Kurrentschrift Schritt für Schritt zurück und ab 1935 wurde nur noch Sütterlin als Deutsche Volksschrift unterrichtet, dabei aber noch weiter vereinfacht. Die klassische Sütterlinschrift wurde 1941 sogar komplett abgeschafft. Ein denkbarer Grund wäre der Umstand, dass die Menschen in den von Deutschland besetzten Gebieten das klassische Sütterlin weder lesen noch schreiben konnten. Damit entstanden Probleme im Schriftverkehr und in der Durchsetzung von Anordnungen, daher wurde die einfachere Schrift als Standard festgesetzt.

Nach dem Krieg reaktivierte man Sütterlin nicht mehr und die Menschen, die es lesen und schreiben können, weil sie es in der Schule gelernt hatten, wurden naturgemäß mit der Zeit weniger.

Die Menschen, die heute oder auch schon die letzten Jahrzehnte schreiben gelernt haben, werden große Schwierigkeiten beim Entziffern der Sütterlinschrift haben. Vielleicht hat man noch Großeltern, die Sütterlin gelernt haben. An Schriftstücken fehlt es sicher nicht. Es gibt genug Archive, aus denen man sich Schriftproben holen kann. Freunde der schönen Handschrift lernen Sütterlin oft, um miteinander zu korrespondieren oder Briefe und Karten besonders ansprechend zu beschriften.

Nostalgiker und Sütterlinliebhaber versuchen seit dem Verschwinden der Schrift aus dem Lehrplan der Deutschen Schulen die Erinnerung lebendig zu halten. Sie geben Workshops zum Schrifterwerb oder führen Interessierte in Archive, um gemeinsam Dokumente in Sütterlin lesen zu üben. Das ist natürlich nur eine kleine Gruppe von Personen, aber sie pflegen ihre Leidenschaft treu.

Wer also interessiert ist, kann sich an die Hamburger Sütterlinstube und die „Sütterlin-Schreibstube“ in Konstanz wenden.

Quellen

Sütterlin, Ludwig. Neuer Leitfaden für den Schreibunterricht. Berlin 1926

Bartnitzky, Horst. Welche Schreibschrift passt am besten zum Grundschulunterricht heute? In: Grundschule aktuell, Heft 91, 2005

Masurisch

Die Frage ob Masurisch (polnisch gwara mazurska , masurisch mazurská gádka/mazurská gádkia) als Dialekt oder eigenständige Sprache angesehen werden soll, spaltet die Forschung. Für beide Standpunkte lassen sich Argumente finden, aber die Mehrheit ist für Dialekt.

Masurisch wird im Nordosten Polens, in den Masuren gesprochen. Der westslawische Stamm der Masowier besiedelte von Süden aus die Masuren und waren bis zum Jahr 1000 ein unabhängiger Volksstamm. Der polnische Piastenfürst Bolesław Chrobry unterwarf sie und gliederte das Gebiet in sein Reich ein. Im Laufe der Zeit gerieten Masowier unter die Herrschaft des Deutschen Ordens, der die Christianisierung vorantrieb. Eigentlich waren die Masowier Fischer und Bauern, zogen aber durch die Siedlungspolitik auch vermehrt in die neu gegründeten Städte wie Pisz, ehemals Johannisburg. Auch die Frage der Konfession ist in Masuren nicht pauschal zu beantworten. Die Reformation und Gegenreformation schuf eine gemischte Bevölkerung, die Gebiete der Masowier sind weitestgehend evangelisch, nur rund um Allenstein, heute Olsztyn, katholisch.

Die Industrialisierung zog im 19. Jahrhundert viele Menschen aus den masurischen Gebieten in Richtung Westeuropa. Die beiden Weltkriege verstärkte diese Tendenz und befeuerte die Assimilation der Masurisch-Sprechenden weiter. Der Bevölkerungsschwund wirkte sich auch auf die Sprache aus.  Man geht von etwa 80.000 Sprechern vor 1945 aus, heute sind es Schätzungen zufolge noch 15.000.

Heute sind die meisten Masurischsprechenden polnische Staatsbürger, pflegen aber auch ihre masurischen Wurzeln. Es gibt verstärkt Bemühungen die Sprache bzw. den Dialekt zu stärken.

Das Masurische weist interessante Unterschiede zum Standardpolnischen auf. Das Augenscheinlichste ist das sogenannte ‚Masurieren‘, d.h. die polnischen Laute /cz/, /sz/, /ż/, /dż/ wie /c/, /s/, /z/ ausgesprochen werden z.B. wird aus ‚czapka‘ → ‚capka‘ (dt. Mütze), jedoch kann man es auch in anderen Gegenden im Osten Polens hören.  Auch die Tendenz velare Laute /k/, /g/ und /ch/ vermehrt palatalisiert als /ć/, /dź/ und /ś/ auszusprechen, ist typisch für die Masuren. Die Nasalvokale des Polnischen /ą/ und /ę/ verlieren hier ihre Nasalität und werden zu /ɔ/ und /ɛ/. In einigen Fällen kann im Masurischen die obligatorische Erweichung von Konsonanten vor /i/ in eine harte Aussprache wechseln, polnisch ‚lipa‘- ‚Linde‘ oder ‚posłuchali’- ‚sie hörten‘ in ‚lypa‘ oder ‚posłuchaly‘.

Auch in der Grammatik zeigen sich ein paar kleine Abweichungen von Polnischen z.B. die Endung -i statt des üblichen -ej im Genitiv und Dativ der weiblichen Substantive.

In der Lexik zeigt sich ein hoher Anteil an deutschen Entlehnungen z.B. ‚bónÿ‘ – ‚Bohnen‘ oder ‚prÿnc‘- ‚Prinz‘, was auf den historischen Kontakt zurückzuführen ist, genauso wie Anteile pruzzischer Wörter. Die Masuren weisen wegen der abweichenden Lexik oft auf den Status einer eigenen Sprache hin, linguistisch gesehen machen aber die Unterschiede im Wortschatz allein noch keinen Dialekt zu einer eigenen Sprache.

Die masurische Literaturlandschaft musste mit der Tatsache umgehen, dass es für das Masurische keine einheitliche Schriftsprache gibt und ihre Autoren entweder auf Deutsch oder Polnisch schreiben bzw. schrieben. Bekannte Vertreter sind Erwin Kruk, Siegfried Lenz und Fritz Skowronnek, die alle aus den Masuren stammen.

Im Allgemeinen sind die Dialekte in Polen einem stetigen Schwund ausgesetzt. Ob die Masuren es schaffen, in Konkurrenz zum Standardpolnischen zu bestehen, wird die Zeit zeigen.

Quellen

Hentschel, Gerd. Masurisch. In: Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens, Bd 10: Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Klagenfurt 2002

Kossert, Andreas. Masuren, Ostpreußens vergessener Süden. Siedler, Berlin 2001

http://www.dialektologia.uw.edu.pl/index.php

Oberschlesien

Die mit viel Geschichte behaftete Region Oberschlesien gehört heute zum größten Teil zu Polen, ein kleiner Teil zu Tschechien. Das Gebiet umfasst mit den Zentren Opole, Katowice und Ostrava (Tschechien) große Industrieregionen und war schon immer ein Zankapfel der Mächtigen.

Die ersten Siedler, von denen man weiß, waren westslawischen Mährer, die sich im früher Mittelalter ansiedelten. Bis ins 12. Jahrhundert wechselte die Machtansprüche zwischen Böhmen und Polen, bis zum Vertrag von Glatz 1137, der Oberschlesien dem polnischen König zusprach.1348 gliederte man Schlesien, im Vertrag von Namslau, dem Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ein.

Im Ersten Schlesischen Erbfolgekrieg (1740–1748) besetzte Preußen die Region, die bis dahin von den Habsburgern regiert wurde. Nach dem Friedenschluss von Aachen fiel der Großteil Oberschlesiens endgültig an Preußen und galt fortan als fester Teils Preußens, der nach 1918 zwischen Deutschland und Polen geteilt wurde. Der wesentlich kleinere Teil blieb nach 1748 österreichisch und wurde nach Beendigung der Ersten Weltkrieges in die Tschechoslowakei eingegliedert. Nach 1945 verlor Deutschland seinen oberschlesischen Teil durch die Westverschiebung Polens an die Volksrepublik Polen, wodurch die deutschstämmige Bevölkerung fast komplett ausgewiesen wurde und nach Deutschland aussiedeln musste.

Die oberschlesische Bevölkerung war durch die historischen Ereignisse und die Herrscherwechsel von Beginn an ein polyethnisches Gemisch: Slawen, Germanen und andere Ethnien lebten dort. Je nach Zugehörigkeit der Region sprach man Deutsch, Tschechisch oder Polnisch, in manchen Städten dominierte die eine, in anderen die andere Sprache. Viele Herrscher warben auch Siedler aus anderen Ländern an, um die großen Waldgebiete zu roden und zu besiedeln. Dafür gab es Land und Steuervergünstigungen.

Die Christianisierung Oberschlesiens, etwa im 10. Jahrhundert, fand im Zusammenhang mit der Missionierung aller slawischen Stämme in Böhmen und Polen statt. Während der Reformation blieben die Oberschlesier dem katholischen Glauben treu, im Gegensatz zu den meisten Niederschlesiern. Auch Juden lebten im oberschlesischen Raum, meist in den Städten, da sie kein Land erwerben durften. Sie waren immer wieder Anfeindungen ausgesetzt, gehörten bis zum Holocaust aber zum gewohnten Stadtbild.

Das Nebeneinander der Ethnien wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch Vertreibung und Neuansiedlung von Polen aus den polnischen Ostgebieten, den ‚Kresy‘, zu einer vom Staat gewollten polnischen Homogenität vereinheitlicht. Die Kulturvielfalt, die sich Oberschlesien über die Jahrhunderte erarbeitet hat, verging.

Schlesien war nicht nur ein Zentrum des Handels und der Industrie, sondern birgt bis heute Kulturschätze in Hülle und Fülle. Vor allem die christlich motivierten Bräuche und Traditionen verbinden die Menschen in Oberschlesien, egal ob sie Polen oder Angehörige der deutschen Minderheit sind. Beispielhaft für die Region wäre das Osterreiten oder das Erntedankfest. Es gibt dabei auch oft Ähnlichkeiten mit den Bräuchen der Sorben wie das ‚Zampern‘, das in Schlesien ‚Comber‘ heißt.

Unabhängig von der Nationalität weist Oberschlesien eine beachtliche Liste von Künstlern auf, vor allem Schriftsteller, die sich oft zuerst als Oberschlesier sehen und danach als Deutsche oder Polen. Im deutschen Raum ist den meisten der Schriftsteller Joseph von Eichendorff bekannt, der als einer der wichtigsten deutschen Romantiker gilt. Besonders interessant sind, meiner Meinung nach, die Autoren jüngerer Geschichte wie Horst Bienek oder Horst Eckert (alias Janosch), die beide im „deutschen“ Oberschlesien geboren sind und nach dem Krieg als Deutsche nicht bleiben konnten.

Den Sportfan sind im schlesischen Kontext die Fußballspieler Miroslav Klose (geboren in Opole) und Lukas Podolski (geboren in Gliwice) bekannt.

In den letzten Jahrzehnten, nach Ende des Kalten Krieges und der beginnenden Aufarbeitung der Deutsch-polnischen-(tschechischen) Geschichte wächst das Interesse an der Kultur Schlesiens. Die Minderheiten in Polen kämpfen vermehrt für ihre Rechte, ihre Sprache und Anerkennung im polnischen Staat. In Deutschland war es lange Zeit ein Tabu über die schlesischen Gebiet als ‚deutsche Gebiete‘ o.ä. zu sprechen. Viele Menschen, die von dort stammen, sehen sich in erster Linie als Oberschlesier und danach erst als Deutsche oder Polen. Sie möchten ihre Herkunft nicht verschweigen und ihre Kultur pflegen.

In Deutschland haben sich schon kurz nach dem Krieg viele sogenannte Heimatverbände gebildet, die sich für den Schutz der schlesischen Kultur und Sprache stark machten. Im Verlauf der Jahre sind die Bemühungen der Schlesier auf polnischer und deutscher Seite von der Tatsache betroffen, dass der Anpassungsprozess, der Schlesier in Polen und der Schlesier in Deutschland an die jeweilige Kultur des Landes, immer weiter voranschreitet und das öffentliche Interesse der Bevölkerung schwindet. Der Schutz der schlesischen Kultur bedarf also dem Engagement der Schlesier und der Unterstützung der Landesregierungen.

Quellen

Herzig, Arno. Geschichte Schlesiens – vom Mittelalter bis zur Gegenwart. C.H.Beck, München 2015

Vetter, Reinhold. Schlesien – Deutsche und polnische Kulturtraditionen in einer europäischen Grenzregion. DuMont Verlag, Köln 1999

Wisława Szymborska

Die erste polnische Literatur-Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska hat im Vergleich zu anderen Schriftsteller*innen nur wenig geschrieben, etwa 350 Gedichte. Doch diese Gedichte sind weltweit beliebt und in über 40 Sprachen übersetzt worden!

Wisława Szymborska gilt als eine der bedeutendsten Lyrikerinnen Polens. Sie wurde am 02.07.1923 in Kórnik, nahe Poznań, geboren und studierte nach dem Zweiten Weltkrieges in Krakau Polonistik und Soziologie. In den 50er Jahren veröffentlichte sie erste Gedichte in der Dziennik Polski, einer polnischen Tageszeitung. Ab 1953 arbeitet Szymborska bei der Krakauer Literaturzeitschrift Życie Literackie, war verantwortlich für eine Lyrikkolumne und schrieb auch Rezensionen. Als im Dezember 1981 das Kriegsrecht als Reaktion auf die Demokratisierungsversuche verhängt wurde, verließ sie die Życie Literackie und schrieb fortan für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften in Polen. Unter dem Pseudonym Stańczykówna schrieb sie neben ihrer offiziellen Tätigkeit auch noch für die Kultura, eine Exilzeitung in Paris, und veröffentlicht in Samisdat-Verlagen Schriften, die nicht offiziell publiziert werden konnten.  

Szymborska scheute das Rampenlicht, war sich gegenüber mehr als kritisch. Vielleicht erklärt das die wenigen Publikationen, denn sie schrieb immer sehr produktiv, verwarf aber das meiste wieder. Aus ihrem Privatleben offenbarte sie nur wenig. „Öffentlich von sich zu sprechen, lässt das Innere verarmen“, meinte sie einmal.

Ein Meilenstein in Szymborskas Leben war sicherlich die Anerkennung ihrer Leistungen mit dem Erhalt des Literaturnobelpreises 1996, der sie weit über Polen hinaus bekannt machte.

Infolge einer Krebserkrankung verstarb Wisława Szymborska am 1. Februar 2012 und wurde in Krakau beigesetzt. Ihre letzten unvollendeten Gedichte wurden schon kurz nach ihrem Tod im April 2012 in dem Band Wystarczy (dt. Es ist genug) herausgegeben.

Zu Beginn ihrer schriftstellerischen Tätigkeit schreibt Szymborska ganz im Sinne des Sozialistischen Realismus, der in Polen quasi von oben vorgegeben wurde. Ihr Lyrikband Wołanie do Yeti (dt. Rufe an Yeti) von 1957 war ein großer Erfolg in Polen. Dabei spielen Narrative wie das Leben im Sozialismus und eine idealisierte Welt im Vordergrund.  Die Möglichkeit frei zu schreiben und zu veröffentlichen, gab es in Polen lange Zeit nicht. Kritiker warfen Szymborska oftmals vor zu angepasst und linientreu gewesen zu sein.

Mit den Jahren distanzierte sich Szymborska von ihrer früheren Art zu schreiben. Das bedeutet nicht, dass sie ihre Werke als nicht gelungen oder lesenswert ansah, sie waren einfach anders. In späteren Gedichten spürt man mehr Ironie, die sich sogar auf die eigenen Gedichte von früher beziehen kann. Die Verbesserung des politischen Klimas in Polen ließ das Schreiben freier und authentischer werden. Davon profitierte auch Szymborska. Der Ton in ihren Gedichten wird philosophischer und nachdenklicher, sie schreibt über Gefühle, Gedanken und ihre Sicht auf das Leben und den Tod.

Abgesehen von den Themen ist auch Szymborskas Schreibstil wechselnd, er passt sich dem jeweiligen Thema und der Situation des Gedichtes an. Statt vieler Symbole oder Metaphern verwendet sie eine, auf den ersten Blick, einfache Sprache. Doch diese Einfachheit ist verbunden mit Leichtigkeit und Authentizität. Erscheint das Thema noch so banal, so verändert der Blickwinkel die Perspektive des Lesers.

Die Polen lieben ihre Lyrik, auch die Gedichte Wisława Szymborskas stehen für das Wesen und den Stolz der polnischen Nation.

Quellen

Brigitta Helbig-Mischewski: Sozrealistische Lyrik von Wisława Szymborska. In: Alfrun Kliems, Ute Raßloff, Peter Zajac (Hrsg.): Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa. Band 2: Sozialistischer Realismus. Frank & Timme, Berlin 2006,

Marta Kijowska: „Der Weg vom Leid zur Träne ist interplanetarisch.“ Wisława Szymborska (* 1923), Nobelpreis für Literatur 1996. In: Charlotte Kerner (Hrsg.): Madame Curie und ihre Schwestern. Frauen, die den Nobelpreis bekamen. Beltz, Weinheim/Basel 1997

Interslawisch – eine slawische Plansprache

Neben der weltweit bekannten Plansprache Esperanto gibt es für alle Sprachfamilien entwickelte Plansprachen. Im slawischen Sprachraum entstand 2006 unter der Führung des niederländischen Sprachwissenschaftler Jan van Steenbergen die slawische Plansprache Slovianski, heute Medžuslovjansky, dt. Interslawisch. Das Ziel dieser Plansprache ist die verbesserte Verständigung von Sprechern slawischer Sprachen und einen erleichterten Einstieg in slawische Sprachen für Sprecher anderer Sprachen.

Interslawisch ist eine naturalistische Plansprache, das klingt im ersten Moment paradox, aber alle Elemente sind aus slawischen Sprachen entnommen, was es den Sprechern ermöglicht auf ihre Muttersprache beim Erschließen zurückzugreifen. Bei anderen slawischen Plansprachen wie z.B. Slovio sind die Sprachelemente mit künstlichen Anteilen versehen, was die Verständigung schwerer macht.

Interslawisch greift vor allem auf den gemeinsamen Ursprung der slawischen Sprachen zurück, das Altkirchenslawische. Dadurch können Sprecher slawischer Sprachen meist problemlos verständigen. Die sprachlichen Besonderheiten jeder slawischen Sprache versucht man zu vermeiden, um auf den größtmöglichen gemeinsamen Nenner zu kommen.

Die Sprecherzahlen des Interslawischen variieren, man geht von etwa 2000 aus, es gibt aber keine offiziellen Zahlen. Viele Interessierte sprechen die Sprache nicht, können sie aber lesen und verstehen. Das Besondere ist auch, dass man Interslawisch sowohl in lateinischer als auch in kyrillischer Schrift schreiben kann. Dieser Punkt ist sehr wichtig, weil die slawischen Sprachen in sich selbst nicht einfach in der Schrift wechseln können, mit Ausnahme des Serbischen.

Um eine möglichst reibungslose Verständigung zu erreichen, muss man bei der Entwicklung einer Sprache viele Parameter beachten. Als erstes und für die meisten der wichtigste Punkt ist der Wortschatz. Es ist ein Querschnitt fast aller slawischen Sprachen

Allen Plansprachen weisen eine strukturelle Vereinfachung der Grammatik als Charakteristikum auf, denn die Erlernbarkeit hängt stark von den Gemeinsamkeiten ab, Unterschiede werden also eher ausgeklammert. Auch für Sprecher anderer Sprachfamilien erleichtert es den Einstieg ins Slawische. Wer sich schon mal mit den komplexen Paradigmen der verschiedenen slawischen Sprachen beschäftigt hat, weiß wovon ich spreche. Beim Interslawischen gibt es eine gewisse Reduktion der komplexen Strukturen, aber wichtiger ist die Regelhaftigkeit der Grammatik und die Vermeidung von Ausnahmen, die in allen Sprachen vorkommen und meist sprachspezifisch sind.

Typisch slawische phonologische Merkmale wie Palatalität bleiben im Interslawischen erhalten, auch wenn manche Basissprachen diese Unterscheidung weniger stark zeigen. Die Entwickler gehen davon aus, dass das Grundverständnis der Palatalität allen Sprechern slawischer Sprachen vertraut ist.

Die Orthografie ist weitestgehend phonetisch, also jedes Phonem soll einem Graphem entsprechen, vergleichbar mit der Orthografie des Esperantos.

Wer verschiedene slawische Sprachen spricht, kennt das Problem des Wortakzents, der innerhalb der Sprachen nicht einheitlich ist. Beim Interslawisch ist der Akzent freier als bei anderen slawischen Plansprachen, unterliegt aber trotzdem bestimmten Regeln z.B. liegt der Akzent auf dem Wortstamm, nicht auf Präfixen oder Flexionsendungen.

Die morphologischen Aspekte des Interslawisch lehnen sich stark an die Ursprungssprachen an. Für die Wortbildung gibt Derivation, aber so gut wie keine Komposition (ist in den slawischen Sprachen selten zu sehen).

Interslawisch besitzt 6 Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Instrumental und Lokativ), wie die meisten Slawinen. Die Kasusendungen werden regelhaft und eindeutig gestaltet. Im Fall der Kategorie Numerus wird ebenfalls vereinfacht, d.h. der Dual kommt nicht vor, es gibt nur Singular und Plural. Beim Genus sieht man maskulin, feminin und neutrum die Endungen sind wieder regelhaft z.B. enden maskuline Substantive auf einem harten Konsonanten, feminin auf -a oder weichen Konsonanten und die Neutra auf -o oder-e.

Van Steenbergen beschreibt den schwierigsten Teil der slawischen Sprachen mit dem Verbalaspekt, der Lernenden des Slawischen gerne in den Wahnsinn treibt. Das übliche Vorkommen perfektiver und imperfektiver Verben als Paar zeigt sich auch im Interslawisch, was für Sprecher slawischer Sprachen ganz natürlich ist, Neulernenden aber sichtlich Probleme bereitet. Erleichternd ist die Verwendung von nur drei Tempusformen (Präsens, Perfekt und Futur).

Die Wortstellung des Interslawischen ist nicht so frei wie man es aus den slawischen Sprachen kennt, obwohl es durch das Kasussystem möglich wäre. Van Steenbergen legt eine SVO-Stellung fest.

Betrachtet man alle Aspekte des Interslawischen im Vergleich zu den slawischen Sprachen, zeigt sich eine sichtbare Annäherung ans Slowenische und eine Distanz zu den ostslawischen Sprachen. Vielleicht liegt es daran, dass das Altkirchenslawische, das die Grundlage für das Interslawische bildet, im Slowenischen noch gut erhalten ist.

Nun könnte man sich fragen ob es sinnvoll ist statt einer natürlichen Slawine lieber eine Plansprache zu lernen? Ein Vorteil des Interslawischen ist offensichtlich die große Wiedererkennbarkeit für alle Sprecher des Slawischen und der vereinfachte Zugang eines Sprechers einer nichtslawischen Sprache. Ein Nachteil ist ebenso offensichtlich: Die Sprecherzahl des Interslawischen ist sehr gering, während z.B. Ukrainisch ca. 40 Mio. Sprecher hat. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit jemanden zu finden, der Interslawisch spricht anstatt Ukrainisch? Zwischen Slawischsprechern können einige Transferstrategien schon zur Verständigung beitragen, ohne eine Plansprache nutzen zu müssen. Trotzdem ist die Idee einer verbindenden Sprache interessant, wenn auch nur theoretisch relevant.

Quellen

Barandovská-Frank, Věra (2011). Panslawische Variationen. Florilegium Interlinguisticum. Peter Lang Internationaler Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main

Meyer, Anna-Maria (2016). Slavic constructed languages in the internet age. Language Problems & Language Planning, vol. 40 no. 3, University of Bamberg Press Bamberg 2014

Wódny muž – Der sorbische Wassermann

Übernatürliche Wesen, die mit dem Element Wasser assoziiert werden, gibt es in allen Kulturkreisen. Das Wasser wird einerseits als lebensspendend und heilig angesehen, andererseits birgt es aber auch das Geheimnisvolle und Gefährliche in sich. Diese Ambivalenz zeigt sich auch in den mythischen Wesen, die im oder am Wasser leben. Sie sind weder grundsätzlich gut oder böse, je nach Situation treten sie als Helfer oder als todbringende Figur auf. Übernatürliche Wesen sind eine Art Schnittstelle zwischen menschlich und göttlich. Sie vereinen Eigenschaften beider in sich. Im Unterschied zu Göttern sind diese Geisterwesen oft an Elemente oder ortsgebundene Kräfte gebunden z.B. an das Wasser.

Eins dieser Wesen ist der Wódny muž (Wassermann) aus den sorbischen Legenden, in der slawischen Mythologie auch als Wodjanoi, Vodyanoy oder Vodník (tschechisch) bekannt. Die Verbindung zum Wasser ist in der Lausitz und dem Spreewald allgegenwärtig. Wasserwege wurde seit jeher zum Transport genutzt und die Mühlen funktionieren mit Wasserkraft. Der Glaube an mythische Wesen ließ den Wassermann zu einer festen Größe, vor allem in der nördlichen Oberlausitz, werden. In der Niederlausitz kennt man ihn weniger und dann eher als Nix.

Der Wódny muž hält sich besonders gerne am Wasser auf, wohnt an Mühlen oder Teichen. Er wird, je nach Literatur, als menschliche Gestalt, blass, hässlich, manchmal als eine Art Wasserleiche (obwohl er nicht als tot angesehen wird), mit trüben Augen, als alter oder junger Mann beschrieben. Das Aussehen passt meistens auch zu seinen wechselnden Eigenschaften.

Im sorbischen Raum wird der Wódny muž entweder als böse Figur beschrieben, die die Menschen ins Wasser lockt (früher konnten nur wenige Menschen schwimmen) und sie verschlingt oder, ähnlich wie viele andere ambivalente Wesen als hilfsbereit, wenn man ihm freundlich und ebenfalls hilfsbereit gegenübertritt.

Einige Geschichten berichten darüber, dass Fischer den Wódny muž in ihren Fischernetzen fingen und ihn auf sein Bitten wieder frei ließen, nachdem er ihnen reiche Entlohnung versprochen hatte oder ihnen beim Fischen die Fische ins Netz trieb. Auch armen Bauern half der Wódny muž, in dem er ihnen Saatgut lieh o.ä. Wer die Freundlichkeit des Wódny muž ausnutzte, musste mit Strafen rechnen. Dieses System kennen wir auch aus vielen Märchen. Es hat einen erzieherischen Charakter z.B. erzählen Eltern ihren Kindern Geschichten über den Wódny muž, damit sie nicht allein an Teichen oder Flüssen spielen.

Wasserwesen wie der Wassermann stehen aber auch im Zusammenhang mit Wetterphänomenen wie Regen oder Gewitter, da die Abhängigkeit von Wetter und Jahreszeiten für die Menschen überlebenswichtig waren. Nicht nur die Hilfsbereitschaft des Wódny muž nutzte den Menschen, sondern auch seine Gunst sie vor Naturkatastrophen wie Überschwemmung oder Unwetter zu schützen bzw. zu warnen.

In der Mythologie werden auch die Frau und die Töchter des Wódny muž erwähnt. Eine Familie zu gründen, erscheint irgendwie sehr menschlich. Natürlich sind auch diese Frauen bzw. Mädchen Wasserwesen, die man meist als Nixen bezeichnet, während die seltenere Bezeichnung Nix für den Wassermann kaum verwendet wird. Im Gegensatz zu dem eher hässlich und alt beschriebenen Wódny muž, sind die Frauen oft jung und hübsch.

Der Wódny muž wohnt häufig am Grund des Teiches oder Flusses und den Menschen ist es verboten sie zu sehen oder zu betreten. Eine Geschichte erzählt, dass eine Hebamme an einem Teich vorbei ging und vom Wassermann um Hilfe gebeten worden ist. Seine Frau lag in den Wehen und die Hebamme stiegt in den Teich, um zu helfen. Sie wurde für ihre Taten reich belohnt und kehrte heil aufs Trockene zurück.

Überall in der Lausitz erzählt man sich solche Geschichten, mal mit mehr oder weniger schlechten Attributen des Wódny muž. Gerade diese Ambivalenz macht ihn für Geschichten so geeignet und wandelbar.  

Quellen

Schneider, Erich. Sagen der Lausitz. Eine Auswahl. 4. Auflage. Domowina-Verlag, Bautzen 1965

Zdeněk, Váňa. Mythologie und Götterwelt der slawischen Völker. Die geistigen Impulse Ost-Europas, Urachhaus, Stuttgart 1992

Das Lorm-Alphabet

Alphabtete werden von uns meist mit Schrift assoziiert, wir lesen und schreiben sie je nach Sprache, die wir verwenden. Doch kann man Alphabete auch anders als in Schriftform verwenden? Na klar, dafür müssen wir auch nicht lange suchen: Das Lorm- Alphabet ist eins der bekanntesten Beispiele für ein nicht-geschriebenes Alphabet als Kommunikationsmittel für blinde und gehörlose Menschen, anders als es z.B. in der Brailleschrift verwendet wird.

Der Erfinder des Lorm-Alphabets ist der Schriftsteller und Literaturkritiker Hieronymus Lorm (1821-1902), eigentlich Heinrich Landesmann, der selber durch eine Erkrankung früh sein Gehör und den Großteil seines Sehvermögens verlor und im späteren Leben vollständig erblindete. Sein Alphabet nutzte er vor allem innerhalb der Familie und mit engen Freunden, richtig bekannt wurde es erst nach seinem Tod.

Mittlerweile ist das Lorm-Alphabet im deutschsprachigen Raum und einigen Ländern Europas wie den Niederlanden und Tschechien etabliert, vor allem weil es schnell zu lernen und effizient in der Anwendung ist.

Der „Sprechende“ buchstabiert in eine Hand (meist die linke) des „Lesenden“. Die Buchstaben werden an verschiedenen Orten der Finger oder Handfläche „gesprochen“ entweder als tippende, gestrichen oder umfassende Berührung. Bei den Strichen unterscheidet das Lorm-Alphabet zusätzlich zwischen Auf- und Abstrich. Die Buchstaben, die getippt werden, befinden sich größtenteils an der Fingerenden, gestrichene Buchstaben an den Grundgliedern der Finger und der Handinnenfläche. Damit wird das taktile System der Hand optimal ausgenutzt, da Finger und Handfläche unterschiedlich viele Nervenenden besitzen, d.h. taktile Reize unterschiedlich gut verarbeiten können.

Schon nach ein wenig Üben kann man mit diesem Alphabet kommunizieren, für ein flüssiges Tempo beim Buchstabieren und Verstehen ist allerdings einiges an Training nötig, wie aber bei allen Dingen, die wir neu lernen. Oder wer hat ohne Üben lesen und schreiben gelernt? Es ist auch möglich verschiedene Sprachen damit zu buchstabieren z.B. Englisch, da sich die Buchstaben ja nicht unterscheiden. Bei Sprachen wie Tschechisch werden einige Veränderungen vorgenommen, das Prinzip bleibt aber erhalten.

Hier eine Übersicht des (deutschen) Lorm-Alphabets, entnommen von http://www.taubblindenwerk.de/haeufig-gestellte-fragen/lormen/

A = Punkt auf der Daumenspitze

B = Kurzer Abstrich auf die Mitte des Zeigefingers

C = Punkt auf das Handgelenk

D = Kurzer Abstrich auf die Mitte des Mittelfingers

E = Punkt auf die Zeigefingerspitze

F = Zusammendrücken der Zeige- und Mittelfingerspitzen

G = Kurzer Abstrich auf die Mitte des Ringfingers

H = Kurzer Abstrich auf die Mitte des Kleinfingers

I = Punkt auf die Mittelfingerspitze

J = Zwei Punkte auf die Mittelfingerspitze

K = Punkt mit vier Fingerspitzen auf dem Handteller

L = Langer Abstrich von den Fingerspitzen zum Handgelenk

M = Punkt auf die Kleinfingerwurzel

N = Punkt auf die Zeigefingerwurzel

O = Punkt auf die Ringfingerspitze

P = Langer Aufstrich an der Außenseite des Zeigefingers

Q = Langer Aufstrich an der Außenseite der Hand

R = Leichtes Trommeln der Finger auf dem Handteller

S = Kreis auf dem Handteller

T = Kurzer Abstrich auf die Mitte des Daumens

U = Punkt auf die Kleinfingerspitze

V = Punkt auf den Daumenballen, etwas außen

W = Zwei Punkte auf den Daumenballen, etwas von außen

X = Querstrich über das Handgelenk

Y = Querstrich über die Mitte der Finger

Z = Schräger Strich vom Daumenballen zur Kleinfingerwurzel

Ä = Zwei Punkte auf die Daumenspitze

Ö = Zwei Punkte auf die Ringfingerspitze

Ü = Zwei Punkte auf die Kleinfingerspitze

CH = Schräges Kreuz auf den Handteller

Sch = Leichtes Umfassen der vier Finger

St = Langer Aufstrich am Daumen (Außenseite)

Abzugrenzen ist das Lorm-Alphabet von anderen Kommunikationsformen wie das Daktylieren oder das Fingeralphabet. Die Verwender des Lorm-Alphabets müssen sich, anders als z.B. bei der Gebärdensprache, dem System des Alphabets innerhalb einer Sprache bewusst sein, d.h. Kinder, die noch nicht schreiben und lesen gelernt haben, können sich damit kaum verständigen. Für Menschen, die erst im Laufe ihres Lebens erblinden oder ihr Gehör verlieren, durch Krankheit etc., macht das Alphabetsystem keine Schwierigkeiten, wenn sie nicht kognitiv eingeschränkt sind, was eine weitere Schwierigkeit darstellen würde.

Quellen

Peter Hepp: Die Welt in meinen Händen. Eine Leben ohne Hören und Sehen. Ullstein, Berlin 2007

https://fakoo.de/lorm.html

http://www.taubblindenwerk.de/haeufig-gestellte-fragen/lormen/