Eigentlich ist der Begriff „Baltische Mythologie“ ein Sammelbegriff, denn er beinhaltet drei Mythologien: die der Letten, Litauer und Prußen. Sie haben zwar alle den gleichen Ursprung und, wegen der geografischen Nähe, auch ähnliche Namen und Bezüge, aber unterscheiden sich doch deutlich voneinander. Auch die Quellen gehen, vor allem zahlenmäßig, weit auseinander.
Die Gebiete der Balten (ich nutze den Begriff als Verallgemeinerung und beziehe mich dabei auf alle drei Gruppen) umfasst das Gebiet zwischen Weichsel und Memel (Prußen), Memel und Düna (Litauer) und Livland (Letten). Sie lebten dort wahrscheinlich als einfache Bauern, organisierten sich aber in Gruppen, um sich vor allem gegen ihre stärkeren Nachbarn z.B. die slawischen Stämme zu verteidigen. Ab wann genau die Balten dort lebten, ist nicht ganz geklärt. Erste schriftliche Erwähnungen finden sich in Quellen aus dem ersten Jahrhundert nach Christus. Man geht davon aus, dass die baltischen Stämme die Gebiete erst nach den Slawen besiedelten, Grenzstreitigkeiten ergaben sich damit von selbst.
Die heidnischen Stämme wurden im Mittelalter vom Deutschen Orden christainisiert, der von Polen aus immer tiefer ins Baltikum vorrückte. Vor allem die Prußen passten ihre Bräuche und Traditionen schnell an die christliche Lehre, was vielleicht auch an ihrer Stammesstruktur lag, die eine Anpassung erleichterte.
Die Litauer sahen in der Christianisierung eine politische Chance sich mehr an Polen zu binden, das schon vorher zum christlichen Glauben übergetreten war. Damit verlief eine religiöse Grenze zwischen ihnen, die durch die Bekehrung des Litauers Jogaila (poln. Władysław II. Jagiełło) und der Heirat mit Hedwig von Anjou (poln. Jadwiga Andegaweńska) endgültig verschwand.
Die Letten hatten nie solch eine staatsähnliche Struktur wie die Prußen, sie wurden im 12. Jahrhundert christianisiert, lebten aber eher ländlich und verstreut. Das ermöglichte ihnen, trotz des christlichen Glaubens, an ihren heidnischen Bräuchen und Traditionen festzuhalten.
Die Prußen lebten einen Polytheismus, der vor allem auf Naturgeister beruhte, die in Tieren und Pflanzen oder auch in Sonne und Mond lebten. Die Idee, die Natur als göttlich oder heilig anzusehen, ist nicht ungewöhnlich, aber die Intensität ist bei den Prußen auffällig. In ihrem Siedlungsgebiet gab es heilige Stellen, meist im Wald, in denen kein Holz geschlagen und nicht gejagt werden durfte. Sehr wahrscheinlich ist, dass es eine Art Priester für Zeremonien gab. Interessanterweise glaubten die Prußen an ein Jenseits, was sich an ihren Begräbnisszeremonienen erkennen lässt: Sie geben den Toten Grabbeigaben mit und versorgten auch ihre Ahnen mit regelmäßigen Opfergaben wie Teile der Ernte oder Opfertiere. Die Namen von Gottheiten sind nur spärlich überliefert. Curche, Patollos und Natrimpe scheinen sicher zu sein, aber da auch die Natur an sich als heilig angesehen wurde sind die Übergänge fließend.
In der Mythologie der Litauer erkennt man eindeutige Einflüsse der Slawen, die aufgrund der geografischen Nähe nicht ungewöhnlich sind. Auch die These, dass sich vom Indogermanischen erst eine ur-baltoslawische Sprache abgespalten hat, die sich später in baltisch und slawisch trennte, mag eine Erklärung für die Ähnlichkeiten sein. Die schriftlichen Quellen, von christlichen Gelehrten, zeigen zwar ein klares Bild, sind aber nicht wohlwollend geschrieben und kritisieren das Brauchtum mit Opfergaben usw.
Ähnlich wie die Germanen und Slawen verehrten die Litauer eine Reihe von Gottheiten, die meist auf Natur oder Naturphänomenen beruhen. Einer der bekanntesten Götter ist Perkunas, ein Himmel- und Donnergott, und Laima, die Göttin des Schicksals, die noch zwei Schwestern hat, wobei sich da sofort der Vergleich mit den drei Nornen aus der nordischen Mythologie aufdrängt.
Es gab noch weiter Götter, zum Schutz für Haus und Hof oder für das Vieh, denen man regelmäßig Opfer darbrachte. Die Frage, ob es Tempel für diese Zeremonien gab, lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Wahrscheinlich ist, dass die heiligen Wälder oder Haine Orte der Zeremonien waren. Wie die Prußen zelebrierten auch die Litauer die Feuerbestattung mit großem Eifer, wertvolle Beigaben inklusive. Durch die Christianisierung ging dieser Kult aber schnell verloren.
Bei den Letten sehen wir große Ähnlichkeiten zu den Litauern und Prußen. Trotzdem konnten die Letten ihre Traditionen und Bräuche noch bis weit über das Mittellalter bewahren, obwohl sie schon im 13. Jahrhundert vollständig christianisiert waren. Der Kontrast zwischen der Oberschicht, die den alten Glauben ablehnte, und der einfachen Landbevölkerung zeigt sich im Umgang mit den heidnischen Bräuchen sehr stark. Auch in der lettischen Mythologie spielen Gegensätze wie Himmel und Erde, Sonne und Mond eine entscheidende Rolle. Die Gottheiten des Himmels sind vorwiegend männlich z.B. Pērkons, der Donnergott oder Dievs, der Himmelsgott, während viele weibliche Göttinnen sich um die Erde, Wachstum (sogenannte Müttergöttinnen – Mātes) und das Schicksal (Laima) kümmern. Auch die Letten betrieben einen intensiven Opfergabenkult, um für Sicherheit und Gesundheit von Familie, Hof und Haus zu bitten.
Allgemein kann man auf nur wenige schriftliche Überlieferungen der Balten zurückgreifen, doch es gibt, zumindest für die Litauer und Letten, eine Sammlung von Gedichten und Liedern (ähnlich wie die isländische Edda), die lettischen Dainas bzw. litauischen Dainos. Sie geben nicht nur Auskunft zur Kultur, sondern sind auch für Sprachwissenschaftler eine Forschungsquellen. Weitere schriftliche Quellen sind vorwiegend in Chroniken oder Berichten von christlichen Schreibern zu finden, deren Objektivität meist angezweifelt werden kann.
Die Mythologie im baltischen Raum erlebt in den letzten Jahrzehnten eine Art Renaissance, es bildeten sich im 20. Jahrhundert sogenannte neuheidnische Religionsgemeinschaften. Bekannt und recht beliebt sind die beiden Gruppen Dievturi in Lettland und Romuva in Litauen. Sie greifen auf die heidnischen Elemente zurück und betonen vor allem die Einheit von Mensch und Natur.
Quellen
Biezais, Haralds. Germanische und baltische Religion in Die Religionen der Menschheit. Band 19/1. Kohlhammer, Stuttgart 1975
Grimal, Pierre. Mythen der Völker III. Fischer Bücherei. Hamburg 1963