Drachen in der slawischen Mythologie

In jeder Mythologie findet man Drachen, unabhängig vom Kulturkreis. In der slawischen Mythologie wimmelt es geradezu von Drachen. Anders als im Deutschen, wo der Name vom Griechischen ‚drakōn‘- ‚Schlange‘ abgeleitet ist, findet man in den slawischen Sprachen die slawische Entsprechung für Schlange: poln. Żmija, russ. Змей (zmej) oder kroat. Zmaj usw. Die abweichende Bezeichnung ‚Smok‘, wie beim Wawel-Drachen, ist in Polen sehr verbreitet.

In der Mythologie der Slawen werden weibliche und männliche Drachen unterschieden. Weibliche Drachen sind Wasserwesen oder wohnen unterhalb der Erde. Männliche Drache werden eher mit Luft und Feuer assoziiert, sie können fliegen und speien Feuer. Beide wirken wie zwei Gegensätze bzw. ergänzen die vier Elemente Erde, Feuer, Luft und Wasser miteinander zu einem großen Ganzen. Ihr Aussehen ähnelt sich: Groß, geschuppt, aber verschieden farbig und auch die Kopfanzahl ist variabel.

Die slawische Mythologie ist nicht überall gleich. Es gibt mehrere, oft ähnlich erscheinende, kleinere Kulturkreise, in denen man verwandte Wesen und Gottheiten findet. Sie lassen auf einen gemeinsamen Ursprung schließen, jedoch spielen andere Einflüsse eine große Rolle.

Schon allein der Gedanke an Drachen lässt die Menschen an das ultimative Böse denken. Die Eigenschaften von Drachen sind aber verschieden und abhängig vom Kulturkreis. Die Dämonisierung ist auch Teil des christlichen Glaubens, der Drachen mit dem Teufel gleichsetzt. Das führte u.a. dazu, dass ein ursprünglich mit positiven Eigenschaften besetztes Wesen wie ein Drache, plötzlich als böse angesehen wurde. Eine bekannte Geschichte ist die vom Heiligen Georg, der einen Drachen tötet, damit sich die Menschen dem Christentum zuwenden. Das Narrativ des Kampfes Gut gegen Böse mit dem Drachen als absolut Böses kommt immer wieder vor.

Im südslawischen Raum kennt man Drachen mit mehreren Köpfen, die Zahl variiert von Region zu Region, und er richtet mit seinem Feuer große Schäden an. Das erinnert an den Wawel-Drachen in Krakau. Auch er terrorisierte die Menschen und wurde am Ende durch eine List getötet. Eine Legende im russischsprachigen Raum erzählt von dem Drachentöter Dobrynja Nikititsch, dessen Taten sich u.a. mit dem deutschen Helden Siegfried vergleichen lassen.

Doch es darf nicht der Eindruck entstehen, dass Drachen in der slawischen Mythologie ausschließlich böse seien. Vor allem die weiblichen Drachen werden durch die Assoziation mit Wasser und Erde als Teil der lebendigen Natur, der Vegetation und der Ernte angesehen. Es war wichtig sich mit diesen Wesen gut zustellen, sie zu füttern und zu ehren.

In der sorbischen Sagenwelt gibt es Plón, einen fliegenden Drachen, der den Menschen wohlgesonnen ist, solange sie ihn füttern. Er sorgt dann für einen Geldsegen im Haus oder auch für eine gute Ernte. Behandelt man ihn schlecht, verschwindet er aus dem Haus und mit ihm der Reichtum. Diese Legende ist auch im deutschen Raum bekannt, v.a. im ostdeutschen Raum, was für eine Übernahme der Geschichte aus der sorbischen bzw. elbslawischen Sagenwelt spricht.

Bis heute hält sich die Faszination für Drachen. Sei es in Filmen wie ‚Der Hobbit‘, wo der Drache Smaug viele typische Elemente in sich vereint, oder in freundlicher Version wie ‚Der kleine Drache Kokosnuss‘, ein Star der Kinderbuchliteratur.

Quellen

Canby, Sheila R.: Drachen. In: John Cherry (Hrsg.): Fabeltiere. Von Drachen, Einhörnern und anderen mythischen Wesen. Reclam, Stuttgart 1997

Sächsische Sagen. Regionale Legenden und Geschichten, Verlag Tosa, Wien 2017

Minderheiten in Polen

Kein Land auf der Welt hat eine homogene Bevölkerung, denn Ländergrenzen sind fast immer politisch motiviert. Die Volksgruppen, die entlang dieser Grenzen leben, werden nicht in solche Fragen mit einbezogen. Daher leben in Nationalstaaten neben der Mehrheitsbevölkerung immer auch ethnische, nationale und sprachliche Minderheiten.

In Polen leben viele ethnische Minderheiten, von denen einige seit einigen Jahren auch als nationale Minderheiten gesetzlich anerkannt und dadurch, theoretisch, besser geschützt sind als in vielen anderen Ländern.

In der polnischen Verfassung von 1997 ist der Schutz von Minderheiten festgeschrieben, aber erst seit dem Beitritt in die Europäische Union am 1.Mai 2004 hat sich Polen zur europäischen Idee der Vielfalt bekannt und ein ‚Gesetz zum Schutz ethnischer und nationaler Minderheiten sowie der Regionalsprache‘ verabschiedet, in dem genau festgelegt ist wer als ethnische bzw. nationale Minderheit gilt und welche Rechte sich aus diesem Schutzstatus ergeben.

Nationale und ethnische Minderheiten müssen laut Gesetz bestimmte Kriterien erfüllen, z.B. unterscheiden sie sich wesentlich von der Mehrheitsgesellschaft durch ihre Sprache und Traditionen, sind sich ihrer Gemeinschaft bewusst, sind polnische Staatsbürger, sind seit mindestens einhundert Jahren in Polen ansässig und identifizieren sich mit Polen.

Als nationale Minderheit sind die belarusische, tschechische, litauische, deutsche, armenische, russische, slowakische, ukrainische und jüdische Minderheiten anerkannt, was sich teilweise historisch und geografisch erklären lässt. Zahlenmäßig bilden die deutsche, ukrainische und belarusische Minderheit die größten nationalen Gruppen in Polen, laut der Befragung im Bericht ‚National-ethnische, sprachliche und konfessionelle Struktur der polnischen Bevölkerung‘ (poln. Struktura narodowo-etniczna, językowa i wyznaniowa ludności Polski – NSP 2011).

Die Definition als ethnische Minderheit unterscheidet sich nur wenig von der Definition als nationale Minderheit. Sie sind zwar polnische Bürger, identifizieren sich aber als eigenständige Gruppe. Die Definition ist, meiner Meinung nach etwas schwammig, denn das Bekenntnis zu einer Minderheit ist freiwillig und darf nicht nachgeprüft werden. Als ethnische Minderheit gelten laut Gesetz die Minderheiten der Karäer, Tataren, Lemken und Roma.

Die Kaschuben und Schlesier, die zwei große Gruppen bilden, gehören offiziell keiner Minderheit an. Jedoch stehen ihre beiden Sprachen, Kaschubisch und Schlesisch, unter besonderem Schutz. Kaschubisch wurde schon 2005 beim ersten Gesetzentwurf miteinbezogen und als Regionalsprache anerkannt. Das Schlesische musste bis dieses Jahr warten und wurde im Mai 2024 vom Sejm als Regionalsprache anerkannt. Die beiden Regionalsprachen haben einen besonderen Status, z.B. haben ihre Sprecher*innen Anspruch auf die Verwendung auf Ämtern und als Unterrichtssprache. Während das für Kaschubisch schon etabliert ist, läuft die Umsetzung beim Schlesischen jetzt erst an.

Alle Zahlen in dem Bericht von 2011 sind freiwillig und lassen Interpretationsspielraum. Der Gedanke, dass Minderheiten besonderen Schutz genießen, ist in Europa ein fester Grundsatz und fördert nicht nur die Akzeptanz der Vielfalt, sondern auch die Sichtbarkeit dieser Gruppen. Doch haben anerkannte Minderheiten in Polen auch besondere Rechte und Vorteile?

Theoretisch ja, aber die praktische Umsetzung ist nicht immer gegeben. Angehörige von Minderheiten dürfen bspw. ihren Namen in Personaldokumenten in der Schreibweise ihrer Sprache eintragen lassen. Außerdem soll es den Minderheiten erleichtert werden ihre Kultur und Traditionen zu leben, was im Gesetz aber nicht näher definiert wird. Theoretisch können Angehörige von Minderheiten gegen Diskriminierung z.B. im Schulalltag oder bei Bewerbungen klagen, aber momentan sind solche Vorgänge eine Seltenheit, was sich jetzt mit der liberaleren und proeuropäischeren Regierung ändern könnte.

Quellen

Struktura narodowo-etniczna, językowa i wyznaniowa ludności Polski – NSP 2011

https://stat.gov.pl/spisy-powszechne/nsp-2011/nsp-2011-wyniki/struktura-narodowo-etniczna-jezykowa-i-wyznaniowa-ludnosci-polski-nsp-2011,22,1.html

Gesetz über nationale und ethnische Minderheiten sowie die Regionalsprache vom 6. Januar 2005

https://www.gov.pl/web/mniejszosci-narodowe-i-etniczne/ustawa-o-mniejszosciach-narodowych-i-etnicznych-oraz-o-jezyku-regionalnym

Gerhart Hauptmann

Wer sich mit deutscher Literatur beschäftigt, kommt nicht an Gerhart Hauptmann vorbei, auch wenn sein Wirken nicht vorbehaltlos positiv bewertet werden kann.

Gerhart Hauptmann wurde 15. November 1862 im damaligen deutschen Ober Salzbrunn, heute Szczawno-Zdrój, in Niederschlesien geboren. Dort wuchs er mit seinen drei Geschwistern auf und verlebte eine unbeschwerte Kindheit. Die Schule war ihm weniger wichtig, der Alltag im preußischen Schulalltag fiel ihm schwer. Eine begonnene Lehre 1878 in der Landwirtschaft bricht er aus gesundheitlichen Gründen ab und beginnt eine Bildhauerausbildung in Breslau (heute Wrocław). Auch diese Ausbildung und die Studie der Philosophie und Geschichte brachte er nicht zu Ende.

1885 fand die Hochzeit Hauptmanns mit Marie Thienemann, die ihn seit Jahren finaziell unterstützte. Im Laufe der nächsten Jahre wurden drei Söhne geboren und die Familie ließ sich 1891 im Riesengebirge nieder.

Hauptmann schrieb in den ersten Ehejahren viel, besonders Dramen wie ‚Die Weber‘, das besonders sozialkritisch war. Das Eheleben mit Marie war überschattet von Krisen und Untreue Hauptmanns, die Scheidung erfolgte 1904. Hauptmann heiratete seine Geliebte Margarete Marschalk noch im selben Jahr.

Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit arbeitete Hauptmann auch an Verfilmungen seiner Werke und inszenierte Theaterstücke.

Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, sympathisierte Hauptmann teilweise mit der Ideologie, Kritik zu bestimmten Punkten äußerte er zwar nie öffentlich, notierte sie aber in seinen Tagebüchern. Er war kein Parteimitglied, wurde aber von den Nazis, wegen seiner Bekanntheit, gerne als einer von ihnen tituliert. Auch seine Werke spiegelten nicht unbedingt die Nazi-Ideologie wider, anstehende Veröffentlichungen neuer Werke wurden verschoben. Einige Verfilmungen durften nur zensiert gezeigt werden z.B. ‚Der Biberpelz‘.

Nach Kriegsende fiel der Wohnort Hauptmanns in den Verwaltungsbereich Polens und im April 1946 sollte er endgültig nach Deutschland ausreisen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er mit einer Ausnahegenehmigung in Schlesien bleiben dürfen. Die Ausreise wurde tragischerweise durch den Tod  Hauptmanns am 6. Juni 1946 nichtig, eine Bestattung in der Heimat verwehrt, sodass er seine letzte Ruhe auf Hiddensee fand.

Das gesamte Werk Hauptmanns umfasst zahlreiche Dramen, Erzählungen, Gedichtbände, Romane und persönliche Aufzeichnungen, dass er zurecht als einer der produktivsten Schriftsteller gilt. Er beschränkte sich nicht auf eine Richtung, obwohl seine Vorliebe für den Naturalismus immer wieder deutlich zu sehen ist. Auch sozialkritische und politische Themen nehmen einen großen Platz ein, sorgten bei Theateraufführungen auch regelmäßig für kleinere Skandale. Einige Stücke wie z.B. ‚Die Weber‘ durften zeitweilig nicht aufgeführt werden, da sie von der preußischen Zensur als Aufruf zu Unruhen angesehen wurden. Ob die Fassung im schlesischen Dialekt dazu beigetragen hat?

Innerhalb und außerhalb Deutschland genoss Gerhart Hauptmann einen guten Ruf und wird bis heute gerne und viel gelesen. Die fehlende Distanz zum Nationalsozialismus trübt sein Erbe. In beiden deutschen Staaten wurden seine Stücke aufgeführt, auch wenn die Resonanz in der DDR erheblich größer war. Das lässt sich mit dem Ansatz der Sozialkritik erklären, die in der DDR als politisch gewünscht angesehen wurde.

Heute erinnern zahlreiche Straßen und Benennungen von Theatern, Schulen etc. an den fleißigen Hauptmann. Seine Werke wie ‚Bahnwärter Thiel‘ oder ‚Die Ratten‘ gehören an in vielen deutschen Schulen zur Pflichtlektüre.

Quellen

Leppmann, Wolfgang. Gerhart Hauptmann. Eine Biographie. Ullstein, Berlin 2007

Sprengel, Peter. Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biographie. Beck, München 2012

Niederdeutsch

Dass in Deutschland nicht nur Deutsch gesprochen wird, ist sicherlich allen klar. Neben Sprachen mit großen Sprecherzahlen, z.B. Polnisch oder Türkisch, sind in Deutschland mehrere Sprachen als Regional- und Minderheitensprachen anerkannt. Eine davon, anerkannt als Regionalsprache, ist Niederdeutsch.

Niederdeutsch wird auch Plattdeutsch (in den Varietäten auch Plattdütsch, Plattduitsk, in den USA Plautdietsch) genannt und hat, je nach Zählweise, bis zu 8 Millionen Sprecher*innen. Das hört sich viel an, hängt aber von den Kenntnissen ab und verteilt sich aber über den ganzen Globus. In Deutschland sprechen es schätzungsweise 5-6 Millionen Menschen, etwa 2 Millionen in den Niederlanden und eine halbe Million in Übersee v.a. in Brasilien.

Der Name Niederdeutsch wird als geografische Bezeichnung verstanden, da die Sprache in den niedrig liegenden Regionen, d.h. vor allem im Norden Deutschlands, gesprochen wird. Anders als die bundesdeutsche Standardsprache kennt das Niederdeutsche keine genormte Schriftsprache, weil sich das Verbreitungsgebiet wie ein breiter Sprachgürtel quer durch Norddeutschland und die Niederlande spannt und sich unzählige Dialektvarietäten entwickelt haben. Heute unterscheidet man zwei große Gruppen: Westniederdeutsch und Ostniederdeutsch, die sich beide in mehrere kleineren Gruppen verzweigen.

So lange wie es das Deutsche in seinen Formen und Ausprägungen gibt, so lange entwickelt sich das Niederdeutsche. Durch Sprachwandel und Sprachgrenzen entwickelte sich das Niederdeutsche anders als das Oberdeutsche und wird heute nicht automatisch von allen Deutschsprechenden verstanden. Die Besiedlung der Nordseeküstenregion durch die Sachsen zur Zeit der Völkerwanderung markiert, vorsichtig formuliert, den Beginn des Niederdeutschen. Im Laufe der nächsten Jahrhunderte breitet es sich über die heutigen Niederlande, England und ab dem 12. Jahrhundert durch die Ostkolonisation auch in Richtung Osten bis ins Baltikum aus. Die großflächige Ausbreitung und die Einflüsse anderer Sprechergemeinschaften erklärt den Variantenreichtum des Niederdeutschen.

Zwischen dem 13. und dem 17. Jahrhundert war Niederdeutsch die Verkehrssprache der Hanse, was sich in zahllosen Dokumenten zeigt. Auch religiöse Texte und Bibelübersetzungen waren in dieser Zeit sehr gefragt.

Das beginnende Ende der Hanse und die Reformation sorgten für den Rückgang des Niederdeutschen zugunsten des Hochdeutschen. Das Niederdeutsche zog sich in den Privat- und Familienbereich zurück. Vor allem die Schriftsprache wurde immer weniger verwendet, besonders im Bildungssystem zu beobachten. Die Kinder erlernten in der Schule Hochdeutsch in Wort und Schrift, sprachen aber zu Hause Niederdeutsch. Innerhalb der Kirche verwendeten immer mehr Gemeinden Hochdeutsch, obwohl die einfachen Leute das Hochdeutsche oft nicht gut verstanden. Niederdeutsch galt als Sprache der ungebildeten Leute und der Frauen, weil die Männer durch ihre Berufstätigkeit meist besser Hochdeutsch sprachen

Nach dem Wiener Kongress 1815 verschärfte sich die Sprachpolitik in Preußen, das durch die Neuordnung große Teile des niederdeutschen Sprachgebietes zugesprochen bekam. Als alleinige Sprache wurde nur noch Hochdeutsch als Amts- und Verkehrssprache genutzt. Die diskriminierende Sprachpolitik hielt bis weit ins 20. Jahrhundert an. Auch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung als Folge des Zweiten Weltkrieges führte zu einer Verkleinerung des Sprachgebietes, im Osten heute durch die Grenze zu Polen festgelegt. Im Westen, an der niederländischen Grenze, blieb das Dialektkontinuum erhalten. Inwiefern Niederdeutsch und Niederländisch als zwei ähnliche Varietäten oder eigene Sprachen gesehen werden, darüber gibt es heftige Diskussionen.

Niederdeutsch unterschiedet sich vom Standardhochdeutschen in vielerlei Hinsicht. Besonders hervorzuheben sind die zahlreichen Lautwandelprozesse z.B. die zweite germanische Lautverschiebung, die das Niederdeutsche ebenso wie das Niederländische und Friesische nicht durchgemacht haben. Andere Lautunterschiede zeigen sich u.a. in den Frikativen (Reibelaut) z.B. ‚slapen‘ statt ‚schlafen‘. Auch die Grammatik unterscheidet sich, je nach Dialektvarietät, z.B. die doppelte Verneinung oder die häufige Verwendung des Verbes ‚tun‘.

Das Niederdeutsche verfügt heute über keine einheitliche Schriftsprache, was besonders den Erwerb der Sprache in den schriftlichen Kompetenzen erschwert.

Der Schutz des Niederdeutschen durch die Sprachencharta und das dadurch gestiegene Sprachprestige gewinnt die Sprache an Sprecher*innen. Die technischen Mittel zur Umsetzung im Internet und die wachsende Präsenz in den Medien lassen Niederdeutsch als wertvollen Teil der deutschen Sprachlandschaft wieder zurückgewinnen.

Quellen

Lindow, Wolfgang. Niederdeutsche Grammatik (= Schriften des Instituts für Niederdeutsche Sprache. Reihe Dokumentation 20). Verlag Schuster, Leer 1998

Stellmacher, Dieter. Niederdeutsche Sprache. Weidler, Berlin 2000

Die Wulfila-Bibel

Wenn Sprachen sterben, gehen nicht nur die Sprache selbst, sondern auch Kulturgut verloren. Für das Gotische existieren nur wenige aussagekräftige Dokumente, mit denen sich die Sprache gut rekonstruieren lässt. Eine der wichtigsten Quellen ist die Wulfila-Bibel.

Entstanden ist die Wulfila-Bibel etwa um 350. Wie viele Menschen außer dem Bischof noch an der Übersetzung gearbeitet haben, ist unklar. Geschrieben ist die Bibel in einer eigens für das Gotische entwickelten Schrift, der gotischen Schrift. Bis dato schrieben die Goten mit germanischen Runen, die aber nicht zum christlichen Inhalt des Textes passten. Das Griechische als eine der wichtigsten liturgischen Schriften war das Vorbild, das Wulfila nutzte.

Diese Bibel ist eine Übersetzung aus dem griechischen ins Gotische. Als Übersetzer wird der Namensgeber der Bibel Missionar und Bischof Wulfila (311 – 383 n.Chr.) angenommen, der wahrscheinlich erste Bischof der Terwingen, einem ostgermanischen-gotischen Stamm. Die Goten waren bis zu Wulfilas Zeit keine Christen, erst ab ca. 376 sind sie konvertiert.  

Heute existieren nur noch wenige Abschriften von Teilen der Bibel. Die meisten stammen aus späteren Jahrhunderten. Das bekannteste ist der Codex Argenteus (dt. silbernes Buch), der sich in Schweden befindet und wahrscheinlich eine Abschrift der Bibel für Theodrich den Großen, König der Ostgoten, ist. Der Text wurde mit silberner Tinte geschrieben und reich verziert.

Neben der großen Bedeutung für die Theologie- und Geschichtswissenschaften, ist die Wulfila-Bibel eine unverzichtbare Quelle für die Sprachwissenschaft. Obwohl das Krimgotische auf der Krim noch bis ins 18.Jahrhundert gesprochen wurde (Gotisch und Krimgotisch sind entfernt verwandt), weiß die Wissenschaft nur wenig über die Sprachstufe aus dem Frühmittelalter. Die Bibel ist das längste Schriftdokument, über das die Forscher verfügen.

Die Sprache der Bibel ist keine Alltagssprache, bietet aber trotzdem Einblicke in die Grammatik und Satzstellung des Gotischen. Außerdem kann man Einflüsse anderer Sprachen erkennen, die nicht nur auf historischen, sondern auch religiösen Gründen bestehen. Wulfila hat bei seiner Übersetzung wahrscheinlich nicht darauf geachtet besonders volkssprachlich zu schreiben, schließlich übersetzte er religiöse Texte. Fehlenden Wortschatz ersetzte Wulfila mit Entlehnungen aus dem Lateinischen und Griechischen. Auch der Satzbau erinnert stark an das Griechische, sodass unklar ist welchen Satzbau das Gotische normalerweise verwendete.

Auch die christliche Richtung der Arianer, der Wulfila und die Goten angehörten, spielt in der Übersetzung eine Rolle, d.h. bestimmte Bibelstellen werden inhaltlich anders übersetzt als im griechischen Ausgangstext.

Ende des 17. Jahrhunderts wurde die gotische Bibel sogar als gedrucktes Werk, jedoch eher zu Forschungszwecken, herausgegeben. Weitere Drucke, zur Erleichterung mit lateinischer und griechischer Übersetzung, erschienen in mehreren Ausgaben. Das zeigt wie hoch das Interesse von Theologen und Sprachwissenschaftlern an der ausgestorbenen Sprache war und bis heute ist.

Quellen

Streitberg, Wilhelm Streitberg. Die Gotische Bibel. Der gotische Text und seine griechische Vorlage. Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg  2000

Falluomini, Carla. Textkritische Anmerkungen zur Gotischen Bibel. „AnnalSS”. 5, 2005

Thüringen

Das heutige Thüringen ist eins der sechzehn deutschen Bundesländer. Doch weit vor der Gründung Deutschlands findet man Thüringen in alten Quellen als Heimat der Thüringer und als Herrschaftsgebiet verschiedener Adelsgeschlechter. Der Name Thüringen leitet sich von ‚Thuringi‘ ab, die Bezeichnung für den dort seit der Völkerwanderung ansässigen germanischen Volksstamm.

In Zentrum Thüringens liegt das Thüringer Becken, was von Mittelgebirgen wie dem Kyffhäuser und dem Thüringer Wald eingerahmt wird. Durchzogen von vielen Flüssen wie der Saale und der Unstrut eignet sich die Region hervorragend für die Forst- und Landwirtschaft. Wichtige Städte sind u.a. Erfurt, Jena und Weimar.

Die Region wurde schon früh von germanischen Stämmen besiedelt, erste Quellen über die Besiedlung stammen aus dem 4. Jahrhundert n.Chr. von Römern. Im 6. Jahrhundert unterwarfen die Franken von Westen aus weite Teile des heutigen Thüringens. Unter der Herrschaft der Merowinger bestand bis ins 8. Jahrhundert n.Chr. ein Herzogtum Thüringen, einschließlich der Gründung der Städte Erfurt und Arnstadt. In dieser Zeit wurden die meisten Bewohner der Region zum Christentum bekehrt und in Erfurt gründete sich das Bistum Erfurt.

Die Zugehörigkeit zum Heiligen Römischen Reich verhinderte eine weitere Ausbreitung und Erstarkung des Herzogtums, die Herrschaftsansprüche verschiedener Adliger führte zu zahlreichen Auseinandersetzungen bis ins 13. Jahrhundert hinein. Die Wettiner gingen als Sieger der Erbfolgestreitigkeiten hervor und vereinten große Teile Thüringens mit ihren Ländereien in Sachsen.  

Im späten Mittelalten blühten die Städte wie Erfurt auf, es entstanden Universitäten und der Handel mit Städte in ganz Europa florierte.

Zur Zeit der Reformation war Thüringen ein kulturelles Zentrum. Martin Luther studierte in Erfurt, lehrte dann in Wittenberg, was damals zum Herrschaftsgebiet des Sächsischen Kürfürsten gehörte und auch große Teile des heutigen Thüringens einschloss. Die Wartburg bei Eisenach, auf der Luther an seiner Bibelübersetzung arbeitete, ist einer der bedeutendsten Orte in Thüringen und markiert einen Wendepunkt in der Kirchengeschichte. Die aus der Reformation resultierende Bauernkriege begannen im thüringischen Mühl- und Frankenhausen. Der 30jährige Krieg verwüstete und entvölkerte ganze Landstriche.

Dem 30jährigen Krieg folgte eine Zeit der Blüte. Die Region entwickelte sich u.a. durch verbesserte Bildung der Bevölkerung zu einem Zentrum des Humanismus. Die Einflüsse der ansässigen Adelsgeschlechter breitete sich nach der wirtschaftlichen Erholung Thüringens zum Beginn des 18.Jahrhunderts in viele europäische Königshäuser aus, u.a. nach England, Belgien und Preußen. Gelehrte und Dichter wie Goethe, Schiller und Hegel wirkten an verschiedenen Orten in Thüringen.

Der Wiener Kongress 1815 und die politischen Ereignisse des 19. Jahrhunderts schufen weitere Kulturzentren und Gelehrte wie Friedrich Fröbel oder Frank Liszt sorgten für wichtige Impulse in ihren Fachgebieten, die weit über die Grenzen Thüringens hinaus wirkten. Die Industrialisierung der Region und ihre Anbindung an das Eisenbahnnetz schufen Arbeitsplätze und ein Bevölkerungswachstum. Daraus ergaben sich soziale Probleme, was u.a. zum Wirken Bebels in Eisenach führte und richtungsweisend für die Politik in der heutigen Bundesrepublik.

Nach dem Ersten Weltkrieg gründetet sich das Land Thüringen als Teil der Weimarer Republik, dessen Eigenständigkeit ab 1933 von den Nationalsozialisten aufgehoben wurde. Auf die Umstrukturierung in der DDR in einzelne Bezirke folgte nach der Wiedervereinigung die Neu-Gründung des Landes Thüringen als Freistaat wie wir es heute kennen.

Das Wappen Thüringens zeigt einen siebenfach geteilten, golden bewehrten und gekrönten rot-weißen Löwen, begleitet von acht silbernen Sternen, auf blauem Grund.

Quellen

John, Jürgen & Jonscher Reinhard & Stelzner, Axel. Geschichte in Daten – Thüringen. Koehler & Amelang, München 1995

Raßloff, Steffen. Geschichte Thüringens. Beck. München 2010

Rovásírás – altungarische Runen

Das heutige Ungarisch wird seit dem frühen Mittelalter in lateinischer Schrift geschrieben, doch vorher verwendeten die Menschen eine eigene Schrift: Rovásírás – dt. Runenschrift.

Ihre Herkunft ist nicht sicher geklärt. Eine Annahme ist, dass die Schrift mit anderen Runen aus dem türkischen Raum verwandt sind oder eine Abwandlung der phönizischen Schrift darstellt. Eine Verwandtschaft mit den Runen aus dem germanischen Kulturkreis wird ausgeschlossen.

Auch eine genau Entstehungszeit ist schwierig zu bestimmen. Wenn man von der Verwandtschaft mit alten türkischen Schriften ausgeht, könnte ein Entstehungszeitraum um 7. Jahrhundert n.Chr. ausgegangen werden. Historisch wurden Kontakte der damaligen Sprechergemeinschaft des Alt- bzw. Protoungarischen mit Turkvölkern belegt, die für diesen Zeitraum sprechen.   

Rovásírás ist eine Alphabetschrift, jedoch wird sie wie Phönizisch oder Hebräisch von rechts nach links geschrieben. Die Ähnlichkeit der meisten Zeichen mit einer türkischen Schrift lässt sich gut nachweisen. Einige Zeichen müssen jedoch entweder neu hinzugekommen oder aus anderen Schriften entlehnt worden sein, denn einzelne Laute des Altungarischen kommen in Turksprachen nicht vor und wurden dementsprechend auch nicht von ihnen verschriftlicht. Vermutungen, dass es Anteile aus dem griechischen Alphabet gibt, liegen nahe.

Insgesamt besitzt das ursprüngliche Alphabet 42 Buchstaben, wobei einige Konsonanten zwei Zeichen besitzen, in Abhängigkeit des benachbarten Vokals. Es gibt keine separaten Buchstaben für Groß- und Kleinschreibung, aber vor allem bei Namen wurde der erste Buchstabe einfach größer geschrieben. Die Schreibung ist meist phonetisch, bildet also die tatsächliche Aussprache ab.

Das heutige Ungarn ist nur ein kleiner Teil des Verbreitungsgebietes der Runen. Inschriften aus unterschiedlichen Jahrhunderten auf Gegenständen wurden rund um die Karpaten, das Gebiet der heutigen Ukraine und noch weiter östlich gefunden. Eine erste Erwähnung der Schrift findet man in der Chronik von Simon von Kéza, die aus dem 13. Jahrhundert stammt.

Während die lateinische Schrift sich ab ca. 1000 n.Chr. als offizielle Schrift genutzt wurde, verwendete man die Rovásírás im Alltag und in der Folklore. Es sind Inschriften bis ins 19. Jahrhundert belegt, durchaus auch religiöse texte wie z.B. das Vater Unser.

Die Forschung hat die Runenschrift erst seit kurzem wieder als Forschungsgegenstand entdeckt. Seit einigen Jahren ist die Runenschrift in Ungarn wieder populärer geworden (ähnlich wie die germanischen Runen) und man sieht sie an öffentlichen Plätzen oder Schildern. Die Schrift verschriftlicht heute das modern Ungarisch, beibehalten wird aber die Schreibrichtung wie früher. Durch Sprachwandelprozesse hat sich das Ungarische stark verändert und so musste bspw. Runen für die typischen Vokallängen in Ungarischen angepasst werden. Kritiker sehen in der Anpassung der Schrift einen Eingriff in die Authentizität.

Quelle

Altheim, Franz. Geschichte der Hunnen. Berlin, de Gruyter

Rockstein, Edward. The Mystery of the Székely Runes. Epigraphic Society Occasional Papers, 1990

Die Walküren

Wer sich für die nordische Mythologie interessiert, kennt auch die Erzählungen über die Walküren, die Schildjungfern.

Der Name ‚valkyrja‘ -‚Walküre‘ stammt aus dem Altnordischen und ist eine Zusammensetzung aus den Wörtern ‚valr‘ und ‚kjósa‘ und bedeutet die ‚Totenwählerin‘. Walküren sind Geisterwesen aus Odins innerem Kreis, manchmal werden sie auch als Töchter Odins beschrieben, und haben die Aufgabe die Gefallenden nach der Schlacht nach Walhall zu führen.

Die Verbindung zwischen Leben und Tod weisen auch andere Wesen aus der Mythologie auf, z.B. die Nornen. Doch anders als die Nornen sind Walküren nur für Krieger und Kriegerinnen zuständig.

In zahlreichen Abbildungen zeigen die Walküren mit Kleidung wie Kriegerinnen, tragen Waffen und reiten auf Pferden. Ihr Aussehen ist erinnert stark an die Krieger in der Schlacht. Auch ihr Wesen ist nicht sanft, wie man es allgemein mit weiblichen Wesen in der Mythologie verbindet, sondern kämpferisch.

Die Aufgabe der Wallküren, die gefallenen Krieger nach der Schlacht auszuwählen verleiht ihnen eine gewisse Macht über die Männer, denn sie entscheiden, wer nach Walhall darf. Die Nordgermanen waren vielleicht auch aus diesem Grund besonders mutig, denn nur Mut und Wagnis versprachen auserwählt zu werden. Das Leben in Walhall war ursprünglich kein Dasein mit Trinkgelagen, sondern weiteren Schlachten. Doch im Laufe der Zeit veränderte sich die Vorstellung zu einer Art Kriegerparadies, in denen die Walküren die Krieger auch bewirteten. Das passt wieder zur traditionellen Rollenverteilung.

In Liedern in der Edda wird auch davon berichten, dass Walküren den Kriegern kurz vor der Schlacht erschienen und ihnen damit den baldigen Tod ankündigten. Die Nordgermanen sahen sie daher auch als Todesengel an, auch wenn sie den Tod nicht fürchteten. Es war nur ein Grund mehr ehrenvoll in die Schlacht ziehen. Nach der Schlacht konnte man die Walküren über den Himmel reiten sehen, auf dem Weg zu den Auserwählten. Der Himmel und auch die Polarlichter waren daher für die Nordgermanen sehr bedeutsam.

Von den Walküren kennt man viele Namen, obwohl die Anzahl dieser Wesen ursprünglich nur neun oder zwölf gewesen war. Doch im Laufe der Zeit scheinen viele dazugekommen zu sein, je nachdem welches Edda-Lied man sich anschaut.

Obwohl die Walküren keine Menschen sind, verkehren sie mitunter mit Sterblichen. Es wird von Liebesbeziehungen zwischen ihnen und Kriegern berichtet. In der Hinsicht sind sie den Menschen ähnlich.

Außer in der Edda findet man zwei Erwähnungen auf Runensteinen, die in Schweden gefunden wurde und wahrscheinlich auf dem 9. und 10. Jahrhundert stammten.

Damals wie heute werden Walküren als positiv wahrgenommen, denn sie entscheiden nicht über das Leben selbst, sondern über das Leben nach dem Tod. Doch es darf nicht übersehen werden, dass sie durch ihren begrenzten Wirkungskreis mit durchweg negativen Ereignissen wie Krieg oder Zerstörung assoziiert werden und keinerlei Interesse am Leben der Menschen haben. Trotzdem werden sie in modernen Filmen und Geschichten oft als gutmütig und wohlwollend dargestellt.

Walküren haben eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, für andere Dinge sind sie nicht zuständig und diese Trennung zu anderen Wesen ist eindeutig.

Quellen

Grimal, Pierre (Hrsg.). Mythen der Völker. 3, Frankfurt am Main, Fischer. 1967

Simek, Rudolf. Religion und Mythologie der Germanen. Wissenschaftl. Buchgesellschaft, Darmstadt 2003

Deutsche Sprachinsel in Brasilien

Dass es Millionen deutsche Auswanderer nach Nordamerika, besonders in die USA, zog, ist weit bekannt. Doch was ist mit Südamerika? Auch hierher wanderten ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts zehntausende Menschen aus.

Südamerika war für Auswanderer sehr attraktiv, denn hier konnten sie nicht nur ein neues Leben beginnen, sondern auch ihre Sprache und Kultur pflegen und erhalten. Vor allem Brasilien war als Auswanderungsland beliebt.

Erste Siedlungen gründeten deutsche und schweizerische Auswanderergruppen 1818 im heutigen Bundesstaat Santa Catarina. Die meisten Siedler stammten aus dem Hunsrück, aber auch aus Pommern und Westfalen. Die Siedlungen entstanden in Gebieten, die vorher kaum besiedelt waren. Die Siedler erhielten von der Regierung große Flächen zur Bewirtschaftung und blieben in diesen Siedlungen weitestgehend unter sich. Mit der Zeit kamen viele Menschen aus allen Teilen des deutschsprachigen Raumes nach Brasilien, was man gut an deutschen Ortsnamen wie Blumenau oder Fraiburgo erkennt. Die Mehrheit der Siedler stammte, nach den Zahlen der Kolonialgesellschaft, aus dem Hunsrück und Umgebung.

Schnell erzielten die Siedler Erfolg in der Landwirtschaft und versorgten sich autark, dank moderner landwirtschaftlicher Methoden. Großen Wert legten die deutschen Siedler auf die Bildung, es entstanden schnell Schulen. Im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen erhielten ihre Kinder eine solide Schulbildung nach dem Vorbild der Heimat. Zahlreiche Vereine, Zeitungen und Kulturorganisationen gründeten sich. Die Besiedlung breitete sich entlang der Flüsse ins Landesinnere aus, viele deutschen Dialekte trafen aufeinander. Nicht nur aus dem deutschen Raum wanderten Deutschsprachige nach Brasilien aus, auch Wolgadeutsche zog es vermehrt hierher. In den 1880/90er Jahren ließen sich 30% der deutschen Auswanderer in Südamerika nieder.

Der Erste Weltkrieg ließ die deutschsprachige Kultur stagnieren, Unterricht in deutscher Sprache und deutschsprachige Vereine wurden verboten. Nach dem Krieg wurden diese Verbote zwar wieder aufgehoben, aber der stetige Assimilationsdruck wuchs. Im Laufe der Jahre mischten sich andere Gruppen wie Italiener, Polen etc. unter die bis dahin sehr homogene deutsche Bevölkerung und bewirkte eine zunehmende Verwendung der Amtssprache Portugiesisch als Verkehrssprache.

Eine weitere Auswanderungswelle nach Brasilien war die Zeit kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten mit rund 100.000 Menschen, wobei die meisten deutschen Auswanderer jüdischen Glaubens waren. Wieder einmal erlebten die Deutschstämmigen Verbote von Zeitungen, Schulen und ähnliches. Dies betraf aber auch Menschen mit anderen europäischen Wurzeln. Die brasilianische Regierung unter Vargas arbeitete an einer stetigen Homogenisierung der Bevölkerung. Selbst das Sprechen der deutschen Sprache stand ab 1942 unter Strafe. Die politische Lage im und nach dem Zweiten Weltkrieg zwang viele Deutschsprachige zur Assimilation. Der fehlende Schulunterricht und das Publikationsverbot führte dazu, dass die deutsche Sprache nur mündlich, vermehrt in Dialektvarietäten, weitergegeben werden konnte und zudem stark an Prestige verlor.

Ab den 1950 verbesserte sich die Situation für das Deutsche durch die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Brasilien und Deutschland. Verbote wurden schrittweise aufgehoben und der Deutschunterricht ab 1961 wieder eingeführt (als Fremdsprache).

Wie viele deutschstämmige bzw. deutschsprachige Menschen es heute in Brasilien gibt, kann nur geschätzt werden. Untersuchungen von 1990 gehen von ca.3,5 Millionen Deutschstämmigen und etwa 1,4 Millionen deutsch Sprechenden aus. Die Deutschkenntnisse sind unterschiedlich ausgeprägt, oft mit vielen Entlehnungen aus dem Portugiesischen. Die Hauptvarietät ist bis heute das Riograndenser Hunsrückisch, eine Mischung des deutschen Dialektes mit Einflüssen anderer deutscher Dialekte und Einwanderersprachen. Im öffentlichen Leben überwiegt zwar das Portugiesische, aber Umfragen ergeben eine breite Verwendung des Deutschen, besonders im Dialekt, als Familiensprache.

Die kulturelle Vielfalt Brasiliens trägt in einigen südlichen Regionen deutliche deutsche Züge, gemischt mit vielen anderen Einflüssen. Die Geschichte der Menschen mit europäischen Wurzeln erklärt die hohe Akzeptanz und verstärkt die Bemühungen die Kultur und Sprache der Herkunftsländer zu erhalten. Deutschland fördert den Austausch und die kulturelle Verständigung, nicht nur in Brasilien, sondern in allen Teilen Südamerikas mit deutschstämmigen Gruppen. Typische Institutionen wie das Goethe-Institut sind besonders im Süden Brasiliens vertreten.

Viele Schüler*innen lernen im Süden Brasiliens Deutsch als Fremdsprache in der Schule, auch diejenigen, die zu Hause Dialekt sprechen. Jedoch ist Englisch als erste Fremdsprache stärker vertreten. Das Auswärtige Amt hat in seinen Befragungen festgestellt, dass das Interesse am Deutschen, v.a. als Fremdsprache, in Brasilien zunimmt. Welche Perspektiven das Riograndenser Hunsrückisch als ‚alte‘ Varietät in Zukunft in Brasilien spielt, ist bisher nur unzureichend untersucht und hängt stark von einer verbesserten Prestigepflege ab.

Quelle

Plewnia, Albrecht & Riehl, Claudia Maria. Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Übersee. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Tübingen 2018

Wozu braucht man Sprachwissenschaften?

Ich würde behaupten, dass alle Studierenden egal welcher Sprachwissenschaft diese Frage schon mal gestellt bekommen haben! Und die wenigsten haben sofort eine schlagfertige Antwort darauf.

Die Sprachwissenschaft als Disziplin ist von Hause her schon mal riesig. Sie umfasst neben der Allgemeinen und Angewandten Sprachwissenschaft auch die Disziplinen, die sich mit einzelnen Sprachen oder Sprachfamilien beschäftigen z.B. Slawistik oder Romanistik. Bekannte Fachbereiche sind auch Spracherwerb, Computerlinguistik, historische Sprachwissenschaft usw….Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Gerade die technischen Möglichkeiten eröffnen auch der Sprachwissenschaft neue Betätigungsfelder.

Aber eigentlich wissen wir doch schon alles über Sprache(n), oder? Auf dem ersten Blick vielleicht, aber wir kennen noch immer nicht alle Sprachen, ihre Strukturen und die Auswirkungen von Sprache auf unsere Gesellschaften u.v.a.m.

So vielfältig wie die Sprachwissenschaft sind auch die Studiengänge in Deutschland. Es gibt allgemein sowie spezielle Ausrichtungen. Ich habe im Bachelor als Zweitfach ‚Germanistische Linguistik‘ studiert, also dem Schwerpunkt auf germanische Sprachwissenschaft. Mein Erstfach war ‚Slawische Sprachen und Literaturen‘, was Sprach- und Literaturwissenschaft kombiniert. Beide Fächer ergänzen sich, in meinen Augen, perfekt, denn die verschiedenen Sichtweisen und Arbeitsweisen lassen Raum für eigene Interessen, Projekt und hinterfragendes Denken.

Genau diese Freiheit schätze ich an der Sprachwissenschaft. Wir arbeiten nicht nach Schema F, sondern entwickeln eigene Fragestellungen und Lösungsansätze. Es gibt nicht den einen Beruf des Sprachwissenschaftlers, es ist genauso vielfältig wie das Studium.

Als erstes denkt man der typische Arbeitsplatz wäre in der Wissenschaft und Forschung, aber das ist nur ein kleiner Teil. Die Sprachwissenschaft ist eine Disziplin, die oft mit anderen zusammenarbeitet, z.B. mit Historikern, Sozialwissenschaftlern oder Soziologen. Sprachwissenschaftler arbeiten auch im Journalismus, Kulturinstituten, Verlagen, Museen oder in Behörden, je nachdem wofür man sich besonders interessiert. Oftmals hat man ein zweites Fach studiert, im sogenannten Kombibachelor, um sich fachlich breit aufzustellen.

Ein großes Arbeitsfeld sind Übersetzungen und andere Sprachdienstleistungen, Verlagsarbeit und Lehrtätigkeiten z.B. in der Erwachsenenbildung. Die aufkommenden Übersetzertools machen die Sprachwissenschaft keineswegs überflüssig, im Gegenteil. Irgendwer muss diese Programme schließlich entwickeln und trainieren.

Ein Bereich, der mich besonders interessiert, ist die Minderheitensprachpolitik. In unserer immer globaleren und vielfältigeren Welt stehen wir vor dem Problem, dass nicht alle Sprachen und Sprechergemeinschaften gleich gut sichtbar sind. Die historischen Hintergründe dafür sind vielfältig und gerade in Europa wieder ein heiß diskutiertes Thema. Der Schutz und der Erhalt kleiner Sprachen, gerade in Deutschland, liegt mir sehr am Herzen.

Ein anderer Bereich der Sprachwissenschaft ist die klinische Linguistik. Das Studium befähigt die Studierenden später als Sprachtherapeuten zu arbeiten. Sprachtherapeuten sind sowohl in Kliniken und Praxen als auch in der Forschung tätig. Ihr Arbeitsbereich sind u.a. Sprachstörungen.  Dieser Studiengang unterscheidet sich stark von der ‚klassischen‘ Sprachwissenschaft, doch es gibt viele verbindende Elemente, besonders zum Beginn des Studiums.

Egal welchen Weg man nach dem Studium einschlägt, gefordert sind immer ein neugieriger Geist und die Bereitschaft den kulturellen Austausch zu fördern. Auch Sprachwissenschaftler wollen mit ihrer Arbeit ein Teil zur Verständigung innerhalb der Gesellschaft beitragen. Doch auch wir sind nur Menschen. Wir sprechen selten alle Sprachen und bewerten auch nicht was und wie andere sprechen, sondern beschreiben Sprache wie sie ist. Die Sprachwissenschaft ist keine Sprachpolizei und wird es, hoffentlich, auch nie sein!